Die Kunst des Verschwindens – Melanie Raabe
Es ist die Zeit zwischen den Jahren. Alles ist ein bisschen melancholisch und voller Hoffnung für den Beginn des neuen Jahres. Auf den vor Kälte klirrenden Straßen Berlins treffen sich zwei junge Frauen, die auf den ersten Blick nicht unterschiedlicher sein könnten. Ellen ist Filmschauspielerin, die gerade auf Promotour für ihre neue Serie in Berlin ist, während Fotografin Nico auf der Suche nach Inspiration und der Geschichte ihrer Mutter ist. Trotzdem spüren beide sofort, dass da eine tiefere Verbundenheit zwischen ihnen existieren muss. Und tatsächlich sind sich die beiden nicht zufällig begegnet …
Melanie Raabe lässt die Leser*innen in ihrem Roman auf die Leben zweier junger Frauen blicken, deren Schicksale vor einiger Zeit miteinander verwoben wurden, was im Laufe der Geschichte Stück für Stück aufgelöst wird. Wie der Titel andeutet, steht das Verschwinden besonders im Vordergrund. Das Verschwinden von einzelnen Personen, aber auch das Verschwinden im Sinne des Loslassens schmerzhafter Erinnerungen und der Vergangenheit. Auf teilweise schmerzhafte, aber auch berührende Art und Weise schreibt Melanie Raabe vom „Was wäre gewesen, wenn…“ und wie andere Menschen den Lauf unseres Lebens prägen können.
Der klare, teilweise träumerische Schreibstil und eine Handlung, die immer wieder überraschende Wendungen nimmt, erzeugen beim Lesen eine Sogwirkung. Eine magische Geschichte für die kommende winterliche Zeit.
Von Jule Bürgi
Kassandra – Christa Wolf
Alle die mit Percy Jackson und oder den griechischen Mythen aufgewachsen sind: Aufgepasst! In ihrem Roman „Kassandra“ führt Christa Wolf die Leser*innen durch die Welt des antiken Griechenlands. Diese dürfte den meisten bekannt sein, doch Christa Wolf regt dazu an, die alten Sagen zu hinterfragen und aus neuen Blickwinkeln zu betrachten.
Der Roman erzählt die Geschichte des Trojanischen Kriegs aus Sicht der Frauen der Stadt neu. Während die Titelheldin des Romans, die Priesterin und verdammte Seherin Kassandra, auf ihren Tod am Hof des Agamemnon wartet, erzählt sie von ihrem Leben in der patriarchalen Realität des königlichen Hofes in Troja. Im Zuge der Erzählung wird der 10-jährige Krieg, den man als Götterkrieg kennt, entmythifiziert und das Konzept des Helden, des Heros, dekonstruiert. Was übrigbleibt, sind Fragen von und über Liebe, Zusammenhalt und Politik, die die Gesellschaft damals wie heute beschäftigen.
Neben dem klaren feministischen Ansatz zeigt das Buch auch Parallelen zwischen den Geschehnissen in Troja und dem Regime der DDR im Kalten Krieg auf. Je aufgeheizter die Situation im drohenden Krieg, desto weniger Freiheiten für die Trojaner*innen, die sich eigentlich mit Werten der Gleichberechtigung und Gerechtigkeit brüsten. Hier spielen auch die Erfahrungen der Autorin in der intellektuellen Elite der DDR mit in das Buch hinein. Die Mischung aus alt und neu lässt einen das Buch kaum weglegen, obwohl wir das tragische Schicksal Kassandras von Anfang an kennen.
Von Anna Pes
Ich brauche nicht mehr – Ines Maria-Eckermann
“Weniger wollen: Wenn der Weihnachtsmann arbeitslos wird”, scherzt Ines Maria Eckermann in ihrem Werk, in dem sie Gedanken zu Konsum und Achtsamkeit, die auch über die rein materielle Ebene hinausgehen, äußert. Zugegebenermaßen: Das Cover hätte wohl etwas mehr gebraucht. Doch das triste Design trügt: Auf 300 Seiten wird den Leser*innen alltagsnah und intelligent arrangiert ein Wissen zuteil, dessen Sprachstil derart unterhaltsam ist, dass man beinahe glaubt, einen Roman zu lesen.
Beginnend mit den Ursprüngen des materiellen Verzichts im Alten Griechenland und Rom hangelt sich Eckermann am Glücksbegriff entlang, um die Suche danach im modernen Konsumverhalten zu ergründen. Dabei reflektiert sie Themen wie Zufriedenheit, Nachhaltigkeit oder Ernährung – und immer wieder die eigene materielle Habsucht. Statt diese nur zu kritisieren, fragt die Autorin jedoch stets nach dem „Warum“ und begegnet auch schwierigen Themen auf sensible Weise. Humorvoll fasst sie sich immer wieder an die eigene Nase und erzeugt dadurch bei den Leser*innen ein Schmunzeln und die Bereitschaft, es ihr nachzutun.
Ein weiteres zentrales Thema ist Mut. Der Mut dazu, sich selbst und eigene (Kauf-) Muster nicht zu verurteilen, sondern verstehen zu lernen. Nicht nur an Weihnachten, sondern auch zu jeder anderen Zeit im Jahr. Viel Spaß beim gewissenhaften Schmökern und – mit den Worten der Autorin – “Achtsamkeit und Dankbarkeit, in Wenigkeit, Amen”.
Von Julia Prinzen
Vom Ende der Einsamkeit – Benedict Wells
Nach dem Tod seiner Eltern ist Jules „ein Kind von entsetzlicher Traurigkeit“ und vor allem einsam. Er und seine Geschwister Liz und Marty, zu denen er im Jugendalter eine eher distanzierte Beziehung hat, kommen in ein Internat. Die einzige Person, der er nahe sich nahe fühlt, ist seine Schulfreundin Alva, die ihn all die Jahre im Internat begleitet. Nachdem sie ihren Abschluss gemacht haben, verletzt Alva Jules jedoch sehr und ihre Wege trennen sich.
Aus dem melancholischen Jungen ist in der Zeit ein melancholischer junger Mann geworden, der nicht so ganz weiß, was er vom Leben will und wohin mit sich. Er probiert sich als Fotograf und in der Musikbranche. Erst als er nach vielen Jahren Alva wieder trifft, kommt er zu Ruhe. Die Jahre haben bei beiden Spuren hinterlassen und doch verstehen sie sich sofort wieder. Der nächste Schicksalsschlag trifft die beiden hart und Jules kämpft lange, bis er es schafft, damit umzugehen.
Vom Ende der Einsamkeit ist ein wahnsinnig trauriges und doch wunderschönes Buch. Trotz der vielen schmerzhaften Erfahrungen schafft man es, nicht ganz zu verzweifeln – auch wenn man beim Lesen die ein oder andere Träne verdrücken muss. Wells schafft es, mit seiner Sprache zu berühren. Sein neustes Buch „Hard Land“ gewann den diesjährigen Jugendliteraturpreis.
Von Josephine Haq Khan
Wenn ich wiederkomme – Marco Balzano
Kennst du die „Italienkrankheit“? Mir ist der Begriff zum ersten Mal in Marco Balzanos Roman „Wenn ich wiederkomme“ begegnet. Sie steht für die vielschichtigen Problematiken, denen viele Gastarbeiter*innen aus Osteuropa ausgesetzt sind. Psycholog*innen bezeichnen sie sogar als eine „spezielle Form der Depression, welche diejenigen befällt, die jahrelang fern von Zuhause und den Kindern leben, um woanders Alte, Bedürftige und Kranke zu versorgen“.
Daniela ist Mutter von zwei Kindern und tut das, was viele Elternteile in Osteuropa tun. Sie verlässt ihre Familie, um sich in Mailand um fremde Menschen und deren Angehörige zu kümmern. Mit dem Ziel, ihren Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen, arbeitet sie rund um die Uhr. Doch mit der Zeit muss sie feststellen, dass sich ihre Kinder immer weiter von ihr entfernen – der Gedanke eines gemeinsamen Familienlebens wird zu einer Utopie.
Wie geht es denen, die zurückbleiben? Und denen, die irgendwann zurückkehren? Diesen Fragen widmet sich Balzano in seinem Roman und beleuchtet dabei aus unterschiedlichen Perspektiven die oft unthematisierten, geopolitischen Auswirkungen auf den privaten Raum. Balzano findet die passenden Worte, mit denen die Lesenden sich in jede der Figuren hineinversetzten können. Er fällt kein Urteil und präsentiert keine Lösungen – sondern schafft eine Sichtbarkeit für Menschen, die mit ihrer Pflegearbeit in anderen Familien eine Lücke füllen, während sie in ihrer eigenen eine solche hinterlassen.
Von Johanna Weinz
Die Reise ins Reich. Unter Rechtsextremisten, Reichsbürgern und anderen Verschwörungstheoretikern – Tobias Ginsburg
Wer zur Weihnachtszeit nicht ausschließlich mit Christstollen, Glühwein und Kerzenschein im Reich des Besinnlichen bleiben möchte kann mit Tobias Ginsburg 2021 erschienen Buch Die Reise ins Reich. Unter Rechtsextremisten, Reichsbürgern und anderen Verschwörungstheoretikern einen Eindruck gewinnen, was in der Szene der Reichsbewegten so vor sich geht. Das Thema ist leider auch zur Weihnachtszeit hoch-aktuell. Anfang Dezember wurde ein Netzwerk von Reichsbewegten und Rechtsextremist*innen bei einer bundesweiten Razzia hochgenommen und durchleuchtet. Erschreckend dabei ist, wie konkret die Umsturzpläne schon gewesen sein sollen – vom militärischen Putsch bis zum Schattenkabinett scheint alles geplant gewesen zu sein.
Tobias Ginsburg liefert mit seinem Buch eine leichte Einstiegslektüre über die Ideologie der Reichsbewegten und zeigt die Vernetzungen in die rechtsextreme Szene bis hin zum Parlament auf. Ginsburg war acht Monate undercover in der Szene unterwegs und beteiligte sich an Treffen von verschiedenen Gruppierungen. Auch wenn das Thema erschreckend und bitterernst ist, wird man sich bei Ginsburgs höchst intimen und persönlichen Einblick in die Szene, das ein oder andere Schmunzeln unter‘m Tannenbaum nicht verkneifen können. Die Lektüre lässt aber auch nachdenklich zurück. Könnten meine esoterischen Verwandten oder ich selbst vielleicht ähnliche Weltanschauungen haben? Für Tobias Ginsburg verschwimmen die Grenzen und er fragt sich: Bis wohin reicht das Reich?
Von Nicolai Kary
The Seven Husbands of Evelyn Hugo – Taylor Jenkins Reid
Evelyn Hugo ist allseits bekannt als wunderschöne, erfolgreiche Hollywood-Ikone, deren sieben Ehen und skandalöse Affären in den Fünfziger- und Sechziger-Jahren immer wieder für Schlagzeilen gesorgt haben. Im Alter von 71 Jahren erklärt die Schauspielerin sich überraschend dazu bereit, der Journalistin Monique die Wahrheit über ihr glamouröses Lebens zu erzählen.
Was sich dabei entfaltet, ist eine ergreifende Geschichte über Manipulation, Ehrgeiz, Freundschaft und die verschiedensten Arten von Liebe. Eine Geschichte voller unerwarteter Wendungen – denn Evelyns Geschichte hält mehr als eine Überraschung bereit. Niemals hätte Monique erwartet, wer in Wahrheit Evelyns große Liebe ist, aus welchen Gründen die Schauspielerin so oft geheiratet hat, und warum Evelyn ausgerechnet Monique ihre Lebensgeschichte anvertraut.
Wer sich nach leichter Lektüre sehnt, um sich in der Weihnachtspause vollkommen in einer spannenden Erzählung zu verlieren, wird in diesem Roman eine perfekte Ergänzung für den Wunschzettel finden.
Von Emma Brandt