Frau Cheauré, Sie leiten den Sonderforschungsbereich Muße. Der Begriff ist irgendwie schwer zu greifen. Was ist Muße überhaupt?
Das ist eine Frage, die kaum mit einem Satz zu beantworten ist. Muße ist ein Lexem, für das es in anderen Sprachen, in anderen Kulturen, meist nicht einmal ein Pendant gibt. Egal welche Definition man wählt, sie passt zumindest nicht so richtig für jede Kultur und vor allem nicht für jede historische Epoche. Als ich versucht habe, meinen Kindern zu erklären, was ich da eigentlich so mache, meinte einer meiner Söhne: Ach so, du meinst chillen.
In unserer heutigen Alltagskultur wird der Begriff Muße oft gar nicht mehr verstanden. Wir gebrauchen manchmal die saloppe Formel: Alle wollen sie – und keiner weiß genau was es ist. Natürlich gehen wir in unserem Forschungsprogramm seriös mit diesem Problem um und versuchen eine formale Bestimmung von Muße, um Muße von anderen Phänomenen, wie etwa der Freizeit oder der Faulheit abzugrenzen. In unserem wirklich ausgesprochen interdisziplinären Sonderforschungsbereich brauchen wir eine Begrifflichkeit, mit der wir arbeiten können. Wir sprechen dabei zum Beispiel von bestimmter Unbestimmtheit oder produktiver Unproduktivität.
Warum muss es einen solchen Forschungsbereich geben?
Wir greifen in unserem Sonderforschungsbereich ein Problem auf, das äußerst virulent ist, das die Menschen gerade in unserer heutigen Zeit, die unter dem Beschleunigungsdiktat steht, auch beschäftigt. Wir sind zum Beispiel mit einer Flut von Lebensratgebern konfrontiert, die irgendwie von Muße sprechen und damit Wege zum Glück versprechen. Dabei muss nicht unbedingt Muße auf dem Cover stehen. Es geht häufig darum, stressfrei, achtsam, entspannt zu leben.
Es ist aber eben nicht so einfach mit der Muße. Wir können einmal beim Begriff des Chillens bleiben. In der Pubertät, da kennt man das Chillen sehr gut und es gibt kaum eine bessere Form, die Eltern zur Weißglut zu treiben, als zu sagen, ich chille. Aber wer definiert eigentlich, ob diese Jugendlichen eine Mußezeit haben oder ob sie faul sind?
Es ist also notwendig, Muße von Faulheit abzugrenzen. Welche Bedeutung hat Muße dann für den Einzelnen und für unsere Gesellschaft?
Wir glauben, dass das Bedürfnis nach Muße und auch die Notwendigkeit von Muße im Grunde in jeder Gesellschaft vorhanden ist. Muße braucht dabei Zeit und natürlich auch einen Raum im eigentlichen Sinne.
Mein Mußeraum ist zum Beispiel häufig das Fahrrad. Immer wenn ich Fahrrad fahre, kommen mir die besten Ideen, sie fliegen mir gewissermaßen zu. Aber so etwas ist individuell. Jeder wird theoretisch formulieren können, man habe Muße, wenn man ins Museum gehe, aber sobald man mit einer großen Schulklasse im Museum ist, wird klar, was sicherlich keine Muße ist. Wir beschäftigen uns mit solchen Fragen. Wann kippt die Situation in Langeweile, was sind die Bedingungen, damit ich Muße erleben kann, welche Räume befördern, welche Räume verhindern Mußeerfahrungen.
Man spricht ja häufig vom modernen gehetzten Menschen, der nie zur Besinnung komme. Viele berichten aber, da zähle ich mich auch dazu, dass zum Beispiel auf einer Bahnfahrt durchaus Mußeerfahrungen möglich sind. Man kann vor sich hinschmökern, Zeitreisen im Kopf unternehmen. Auch scheinbar leere Wartezeit an einem Flughafengate kann so zu etwas Produktivem führen. Aber da muss man schon wieder aufpassen, dass man nicht normativ wird, also sagt, Muße sei nur dann Muße, wenn etwas Gutes dabei entsteht.
Das heißt, Muße muss sich in den Alltag integrieren, zufällig passieren?
Das Zufällige habe ich jetzt vielleicht ein bisschen zu einseitig dargestellt. Das ist für uns nicht das entscheidende Kriterium. Es können sich Mußesituationen zufällig einstellen, aber man kann sich auch ganz bewusst einen Freiraum in seinem Leben schaffen, mit dem man eine Mußeerfahrung anstrebt. Das ist für uns ein wichtiger Forschungsgegenstand. So erforschen zum Beispiel unsere Forscher und Forscherinnen der Psychologie und der Medizin ein Achtsamkeitstraining für Assistenzärzte. Bei dem Programm mit seinem erklärten Ziel, nämlich den Stressabbau bei dieser Berufsgruppe, muss aber auch geprüft werden, inwieweit eben dieses Ziel dann eigentlich noch direkt mit Muße in Verbindung zu bringen ist.
Man sollte Muße also nicht normativ denken, sie muss immer offen sein. Und man sollte sich davor hüten zu sagen, Muße sei nur dann Muße, wenn daraus etwas Kreatives entsteht. Gleichzeitig ist Muße aber nicht gleichzusetzen mit leerer Zeit. Ich kann nicht zwangsläufig von Muße sprechen, wenn ich mich vierzehn Tage an den Strand knalle.
Nicht zwangsläufig, aber es könnte sein.
Es könnte natürlich sein. Es können sich auch dabei durchaus Mußeerfahrungen einstellen, indem ich zum Beispiel etwas lese oder einfach die Wolken anschaue und vor mich hin denke. Aber Muße ist auch nicht an Nichtstun gekoppelt, ich kann auch mußevoll arbeiten.
Ist es heutzutage schwieriger Mußeerfahrungen zu machen, weil man viele ,Leerstellen‘ im Alltag nur noch mit Medien füllt, also zum Beispiel dadurch, dass wir uns permanent mit dem Smartphone ablenken?
Auf den ersten Blick würde man intuitiv sagen ja. Wir haben uns genau dieses Feld für unsere dritte Laufzeit vorgenommen, in der wir uns stärker mit digitalen Medien auseinandersetzen wollen. Grundsätzlich sollte man sagen, dass an das Thema Muße oft viel zu intuitiv rangegangen wird. Jeder meint da irgendwie schon eine richtige Vorstellung zu haben. Wir sind als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aber natürlich hoffentlich vor allem neutrale Betrachtende. Es heißt ja zum Beispiel oft, Muße kann nicht gleichzeitig auch Arbeit sein. Das stimmt aber nicht. Wir denken Muße und Arbeit nicht als Gegensatz.
Schaffen Sie selbst es, sich Mußezeit einzuräumen?
Ich versuche es. Mein Leben ist durch die Leitung dieses Sonderforschungsbereichs hektischer und anstrengender geworden. Aber aber ich kann auch einen anderen Effekt nennen: Mein schlechtes Gewissen, wenn ich mal einen Tag lang gar nichts mache, schmökere, wenn ich mich interessensgeleitet hingebe, hält sich mittlerweile in Grenzen. Früher hatte ich da das Gefühl, ich hätte diese Zeit besser nutzen können, jetzt merke ich, das ist eigentlich die am besten genutzte Zeit.
Inwiefern wirkt der Sonderforschungsbereich auch über die universitäre Forschung hinaus?
Wir versuchen unsere Ideen von Muße in die Gesellschaft zu transferieren. Nicht nur durch die Buchreihen, die wir veröffentlichen. Wir betreiben auch ein Transferprojekt, ein Museum in Baden-Baden, das wir umbauen und neu gestalten wollen: ein Mußeum. Museum der Muße und Literatur. Im Zuge dieser neuen Museumskonzeption wollen wir viele Angebote für Mußeerfahrung und Angebote zum Verweilen integrieren. Als Pilotprojekt haben wir eine Ausstellung erarbeitet, die da noch bis zum 3. März 2019 läuft: Russland in Europa – Europa in Russland im Stadtmuseum Baden-Baden. Wir wollen hier die Mußethematik vor allem auf der Vermittlungsebene stark machen und die subjektive Auseinandersetzung mit dem Thema fördern.