In der Rue d‘Ulm ist wenig los. Ein Student überquert mit einem Stapel Bücher auf den Armen die Straße und verschwindet in einem Gebäude. Ein Mann in gelber Warnweste fegt Zigarettenstummel von einem leeren Parkplatz und eine Touristengruppe macht Fotos vom Pantheon, dessen blaue Kuppel am Ende der Straße in den Himmel ragt. Ihr Schatten fällt auf das Quartier Latin – Paris‘ historisches Studierendenviertel.
Auch wenn in den Hörsälen heute kein Latein mehr gesprochen wird, haben die Hochschulen des Viertels nichts von ihrem traditionellen Prestige verloren. In der Rue d’Ulm reiht sich eine Eliteuniversität an die andere: Das Collège de France, die Gebäude der École nationale supérieure (ENS) und die Université Paris Sciences et Lettres, ein Zusammenschluss aus zwölf der anerkanntesten Hochschulen Frankreichs. Der Straßenname Ulm ist unter französischen Studierenden längst zu einem Synonym für den akademischen Olymp geworden. Wer hier studiert hat, gehört zu den Spitzenreitern des Landes.
Diese Hochschulen heißen in Frankreich Grandes Écoles – große Schulen. Ursprünglich im 18. Jahrhundert als spezialisierte Ausbildungsstätten für staatsloyale Fachbeamte unter Napoleon I. eingerichtet, spielen sie heute immer noch eine zentrale Rolle bei der französischen Elitenbildung. Es gibt sie vor allem in Paris, aber auch in anderen großen Städten des Landes.
Ihre Auswahlverfahren sind hart. Um sie zu bestehen, bereiten sich die Schüler*innen nach dem Bac, dem französischen Abitur, zwei bis drei Jahre lang in einer sogenannten classe préparatoire – einer Vorbereitungsklasse am Gymnasium – auf die Aufnahmeprüfungen vor. In dieser Zeit bringen ihnen die Lehrer*innen die Unmengen an Wissen bei, welche die Grande École fordert. Sie lernen außerdem, wie man am Prüfungstag trotz Stress und Zeitdruck einen ausgezeichneten Aufsatz schreibt.
Studieren mit Gehalt
Lorraine hat es geschafft. Vor ein paar Monaten wurde sie an der ENS im Fach Musikwissenschaft angenommen. Sie sitzt auf einer Bank im Garten der Universität, hat die Füße auf einen Holzstuhl gelegt und macht eine Lernpause von der Bibliothek. Dass sie einmal an der ENS studieren würde, hätte sie sich nicht erträumen können, nachdem sie 2021 durch die Aufnahmeprüfung gefallen war. Erst beim zweiten Anlauf ein Jahr später, welches sie weiter über ihren Büchern verbracht hatte, erkannte die Pariser Jury sie als gut genug an.
„Während der prépa erschien mir die Grande École völlig unerreichbar. In meiner Vorstellung war die Schule gegen mich und versuchte, mich so gut wie möglich außerhalb ihrer Mauern zu halten“, sagt Lorraine. „Ist man einmal drin, hat man natürlich gewonnen. Das ist der Jackpot. Sobald sie dich angenommen haben, beginnt die Freiheit.“
Es waren Lorraines Eltern, die sie noch in der Schulzeit dazu ermutigt hatten, ein Studium an der Grande École anzustreben. Ihre Mutter kennt diese Welt – sie hat eine Elitehochschule für Richter und Staatsanwälte in Bordeaux besucht. Lorraine weiß, dass ihr Elternhaus eine entscheidende Rolle dabei gespielt hat, dass sie diesen Weg überhaupt eingeschlagen hat: „Die ENS ist nur für Leute zugänglich, die das Geld haben, sich einem langen Studium zu widmen. Ob man die Aufnahme schafft, hängt außerdem von einem bestimmten kulturellen Kapital ab, das nicht alle Familien ihren Kindern gleichermaßen mitgeben.“
Der französische Soziologe Pierre Bourdieu, auf den sich Lorraine mit dem Ausdruck „kulturelles Kapital“ bezieht, hat wie sie an der ENS in Paris studiert. In seinem Werk Der Staatsadel (frz. La noblesse d’État: grandes écoles et esprit de corps, 1989) analysiert er, wie der Aufstieg an die Spitze der französischen Gesellschaft aussieht. Das Studium an der Grande École ist dabei ein Sprungbrett, das einen geradewegs nach oben befördert. Um in den Schlüsselstellungen in Politik, Verwaltung und Wirtschaft arbeiten zu können, ist es geradezu Pflicht.
Für Bourdieu zeigt sich vor allem an der mündlichen Prüfung, der finalen Auswahlrunde der Grandes Écoles, wie sozial undurchlässig die Eliteschulen sind. Eine geeignete Kandidatin wie Lorraine hält vor den Jurymitgliedern nicht nur eine brillante Rede. Sie zeigt auch, dass sie der gleichen Welt angehört wie ihre Prüfer*innen. In Wortgefechten muss man Schlagfertigkeit beweisen, ohne verkrampft zu wirken. Am besten beantwortet man die Fragen mit einer nonchalanten Gelassenheit, die aber keine Arroganz durchscheinen lässt. Den begabtesten Prüflingen gelingt es, an der richtigen Stelle ein Bonmot, also eine geistreiche Bemerkung, einzustreuen, mit dem sie sich der Jury als würdig zu erkennen geben.
Was nach Theater klingt, führt Bourdieu auf das Milieu der jungen Menschen zurück. Ihre soziale Herkunft entscheide darüber, ob sie die für diese Schulen ‚angemessenen‘ Umgangsformen natürlich erlernt haben oder nicht. Vor mehr als dreißig Jahren schreibt er: „Die wenigen Söhne von kleinen Funktionären, Arbeitern, Angestellten und Angehörigen des einfachen und mittleren öffentlichen Dienstes verschwinden alle zwischen der schriftlichen und der mündlichen Prüfung.“ Denjenigen, die diese kulturellen Codes nicht schon früh erlernt haben, hafte oft etwas Gezwungenes an.
„Leider bleibt es meist ein ziemlich geschlossener Kreis an den Grandes Écoles“, sagt Lorraine. „In meiner prépa hatte ich aber auch Klassenkameraden, die aus Arbeiterfamilien mit bescheidenerem Einkommen kamen und es an die ENS in Lyon geschafft haben.“
Der Innenhof von Lorraines Hochschule wirkt hingegen nicht sehr verschlossen. Die Gebäude und Bibliotheken stehen Besucher*innen offen. Jemand läuft durch die Gegend und schießt Fotos von den weißen Marmorbüsten, die zwischen den Fenstern der Fassade hervorragen. Racine, Corneille und Molière, die drei großen Dramatiker des französischen Klassizismus, und der Philosoph René Descartes schauen auf die Studierenden im Garten herab. Das Klischee des Harvard-Elite-Studenten mit schwarzem Mantel, Hornbrille und dicken Wälzern in der Tasche sucht man vergebens. Vielleicht sah man hier noch so aus, als die Philosophen Jean-Paul Sartre, Henri Bergson und der Chemiker Louis Pasteur einst durch die Bogengänge streiften. Heute aber ist der Stil Pulli mit Turnschuhen.
Der französische Staat weiß sehr wohl, dass die Grandes Écoles Kaderschmieden für die künftigen Führungskräfte der Gesellschaft sind. Den Normaliens, wie die Studierenden der ENS genannt werden, zahlt der Staat monatlich ein Gehalt von etwa 1.250 Euro netto aus. Außerdem erhalten sie bereits an der Uni Beamtenstatus. Lorraine hat bei ihrer Immatrikulation einen Vertrag unterschrieben, der sie dazu verpflichtet, zehn Jahre im Dienst des französischen Staates zu arbeiten. „Ich muss nicht unbedingt in staatlichen Ämtern tätig sein, soll mich aber in dieser Zeit nach dem Studium für das Land engagieren“, sagt sie.
Die Absolvent*innen der ENS begeben sich oft in die Forschung, werden Gymnasiallehrer*innen oder übernehmen Positionen in der Verwaltung sowie in der Politik Frankreichs und des EU-Auslands. Wenn man die Bedingungen des Vertrags nicht einhält und etwa als freie*r Journalist*in oder Schriftsteller*in arbeitet, muss man sein Stipendium nach dem Studium zurückzahlen.
Im Gegensatz zu vielen ihrer Kommiliton*innen, die später einmal im öffentlichen Dienst arbeiten wollen, kann sich Lorraine für ihre Zukunft vorstellen, eine Karriere an der Universität einzuschlagen, zu lehren und nebenbei auch noch Musik zu machen.
Wer eine Grande École besucht hat, kann sich eines Arbeitsplatzes sicher sein, unabhängig davon, wie brotlos sein Studienfach erscheinen mag. Die französischen Unternehmen reißen sich um die Eliteschüler*innen. Anders als ein gewöhnlicher Uniabschluss gleichen die Zeugnisse der Grande Écoleglänzenden Qualitätssiegeln, die nicht nur für eine hohe Bildung stehen, sondern auch belegen, dass jemand diszipliniert arbeiten kann.
Immerhin haben diese Studierenden zwei Jahre lang den Stress der Vorbereitungsklasse auf sich genommen und sich in den Aufnahmeprüfungen gegen tausende andere Bewerber*innen durchgesetzt. Eine Befragung an 199 Grandes Écoles habe gezeigt, dass im Jahr 2023 knapp 70 Prozent der Studierenden bereits einen Arbeitsvertrag vor dem Abschluss ihres Studiums unterschreiben, berichtet der französische Hochschulverband Conférence des Grandes Écoles.
Die hohe Einstellungsrate lässt sich mitunter auf einen Vorteil der Elitehochschule zurückführen, für den Bourdieu eine weitere Bezeichnung gefunden hat: soziales Kapital. Ähnlich einer Studentenverbindung pflegen Institutionen wie die ENS Kontakte in alle Bereiche der französischen Berufswelt. Die Alten reichen den Jungen die Hand beim Tritt auf das Karrierebrett.
Von Marokko nach Frankreich: Büffeln für ein Auslandstudium
Von einem Studium an einer französischen Grande École träumen auch junge Menschen im Ausland wie der 20-jährige Ismail. Er hat sein Heimatland Marokko vor einem Jahr verlassen, um nach Bordeaux in Südfrankreich zu ziehen. Hier studiert er jetzt Elektrotechnik an der École d’ingénieur Enseirb-matmeca.
„Meine Eltern sind sehr stolz auf mich, weil ich der erste der Familie bin, der zum Studieren ins Ausland gegangen ist“, sagt Ismail. Sein Vater ist Büroangestellter und seine Mutter arbeitet beim Finanzamt. Sie hat das Abitur, aber keiner von beiden hat studiert. Über die französischen Grandes Écoles haben sie mit ihrem Sohn nie gesprochen. Er erfuhr davon erst im Gymnasium. Der Lehrer erzählte der Klasse, wie streng die Eliteschulen ihre Studierenden aussuchen und welch glänzende Karriere die Auserwählten erwartet.
Als Ismail das hörte, fasste er einen Entschluss: „Ich wollte an so einer Schule in Frankreich studieren. Natürlich ist das anspruchsvoll, aber in Marokko bleiben wollte ich nicht. Das Ausbildungsniveau in Frankreich ist besser als in meiner Heimat und mir war bewusst, dass mich das Studium an einer Grande École zu einer sehr gut bezahlten Position aufsteigen lässt.“
Für die Erfüllung seines Wunsches hat Ismail hart gekämpft. In seiner Heimatstadt Fès hat er nach dem Abitur zwei Jahre lang das Internat Moulay Idriss besucht, das seine Schüler*innen auf die Aufnahmeprüfungen marokkanischer und französischer Grande Écoles vorbereitet. Das Internat bewirbt sich auf Facebook als „Elitenfabrik des Landes“. Tatsächlich erinnert das Tempo, in dem sich Ismail den Lernstoff dort aneignen musste, an den Rhythmus eines schnellen Fließbandes.
In anstrengenden Phasen paukte Ismail seine Physikaufgaben nach dem Unterricht sechs bis acht Stunden am Tag. Im ersten Jahr schlief er oft schlecht, weil sein Zimmermitbewohner bis zwei Uhr nachts noch am Schreibtisch saß und Gleichungen durchrechnete. Gut bei den Klassenarbeiten abzuschneiden, reicht in der Prépa nicht aus. Man muss besser sein als die anderen. Dies ließ ihn das Internat immer wieder spüren.
„Wir waren so dreißig Leute in meiner Klasse. Die Lehrer*innen haben die Schüler*innen mit den besten Leistungen nach ein paar Monaten herausgepickt und daraus nochmal eine extra Klasse gemacht – das waren sozusagen die vielversprechendsten Kandidaten“, sagt Ismail.
Regelmäßige Abfragen sind eine beliebte Technik, mit der die Lehrer*innen des Internats überprüfen, ob ihre Schüler*innen noch mithalten können. An einem Morgen rief der Mathelehrer Ismail und einen Mitschüler an die Tafel. Er drückte beiden ein Stück Kreide in die Hand. Sie mussten ein mathematisches Problem vor den Augen der Klasse lösen.
Dabei ging es um Schnelligkeit: „Manchmal stand man auch zu dritt vorne. Wenn die anderen zügiger als ich gerechnet haben, hat das ein schlechtes Licht auf mich geworfen“, sagt Ismail. „An dem Morgen war die Aufgabe echt knifflig. Ich war nicht gut vorbereitet und musste improvisieren. Mein Lehrer schrie mich an, weil ich planlos etwas an die Tafel gekritzelt hatte. Er fragte mich, ob ich denn zu blöd zum Rechnen sei.“
Am meisten hatte Ismail Angst vor dem sogenannten classement – eine Einstufung seiner Leistungen, die der Lehrer vor allen Anwesenden verkündete. Nach jeder Prüfung teilte dieser die Klassenarbeiten aus und verlas die Note, wenn er die Arbeit vor jemanden auf den Tisch legte. Jeder in der Klasse wusste danach, wer an der Spitze stand, vor allem aber auch, wer sich am schlechtesten schlug.
Die Jahre in der prépa sind unter jungen Menschen als Zeit bekannt, in der sie Opfer bringen müssen. Die Lehrer*innen drillen die jungen Menschen so sehr, weil diese die Aufnahmeprüfungen der Grandes Écoles sonst niemals bestehen würden. In jener Zeit fand Ismail seinen Weg, mit der Belastung umzugehen: „Ich habe immer den Gedanken verdrängt, dass ich im Internat schlecht abschneiden und es nicht nach Frankreich schaffen könnte. Außerdem habe ich jeden Tag Basketball und Volleyball auf den Sportplätzen im Schulhof gespielt. Das hat gegen den Stress geholfen.“
Er hatte auch Klassenkamerad*innen, denen die Anforderungen irgendwann zu viel wurden. Manche suchten Psychotherapeut*innen auf, denen sie sich mit ihrer Angst vor dem Versagen anvertrauen konnten. Andere gaben schon im ersten Schuljahr auf und verließen das Internat. „Der Preis ist hoch“, sagt Ismail schulterzuckend, „aber die meisten zieht es eben ins Ausland. Das ist der Weg.“
Der Moment der Aufnahmeprüfung
Die mündlichen Aufnahmeprüfungen für die französischen Grandes Écoles finden alle zentral in Paris statt. Zum Sommeranfang laden die berühmtesten der Elitehochschulen alle Bewerber*innen in ihre Hallen ein, die die schriftliche Prüfung bereits bestanden haben.
Lorraine, die für ihre prépa extra nach Paris gezogen ist, nahm am Morgen einfach die U-Bahn zur ENS. Indes stieg Ismail mit zwei Freunden in Fès in ein Flugzeug, das sie an einem völlig fremden Ort absetzte. Einfach alles war anders – die Häuserfassaden, das Sonnenlicht auf den Straßen, die Kleidung und die Sprache der Menschen. Ismail spricht mit seinen Freunden Darija, einen arabischen Dialekt Marokkos. Französisch hatten sie alle schon während der Schulzeit gelernt.
Für den Monat der Aufnahmeprüfungen fanden sie im Internet eine kleine Wohnung in Paris. An manchen Tagen verließ einer der drei das Haus, um zur mündlichen Abfrage an einer der altehrwürdigen Ingenieursschulen zu fahren. Die anderen hockten derweil auf ihren Betten und gingen eine Altklausur nach der anderen durch, welche die Grandes Écoles immer online veröffentlichen. Ismail stand die ganze Zeit unter Spannung. Alles hing von den wenigen Tagen ab, an denen er sechzig Minuten hatte, um einer Jury aus Wissenschaftler*innen zu zeigen, was er kann.
Eines Morgens war er allein in der Wohnung, als es plötzlich klingelte. Vor der Tür stand die Polizei. Ismail erfuhr, dass ihr Vermieter ein Betrüger war, dem die Unterkunft nicht gehörte. Die Polizist*innen wollten ihn aus der Wohnung werfen. Ismail war ratlos. Aufgeregt erklärte er, warum seine Freunde mit ihm nach Paris gekommen waren. Er hatte Glück: Für die Zeit der Prüfungen ließen sie die Polizist*innen noch bleiben.
Alle drei bestanden die Prüfungen. Seine zwei marokkanischen Freunde blieben in Paris. Ismail zog für das Studium nach Bordeaux. Der Platz auf einer landesweiten Rangliste entscheidet je nach Noten, an welcher Grande École man sich einschreiben darf. Ismail ist sehr zufrieden mit seiner Hochschule. Er erhält dort neben einer angesehenen Ausbildung auch ein Stipendium, ohne dass er sich das Studium in Frankreich nicht leisten könnte.
Jetzt sitzt er draußen vor einem hippen Café in der Altstadt von Bordeaux und schlürft seinen Eistee durch einen metallenen Strohhalm, der bei jeder kleinen Bewegung im Glas klimpert. Die Sonne scheint. Bald sind in Frankreich Semesterferien und das erste Jahr an der Grand École ist vorbei. Ismail weiß, dass er es schon weit geschafft hat: „Ich habe in der Zukunft viele Möglichkeiten. Entweder gehe ich in den Finanzsektor oder arbeite als Ingenieur mit künstlicher Intelligenz.“ Er lächelt, lehnt sich auf seinem Stuhl nach vorne und fügt hinzu: „Ich folge dem Geld, nicht irgendeiner Leidenschaft.“
Die Uni als Ort zweiter Klasse?
Charlotte hat nachgerechnet. Zwei Punkte hatten ihr in der Philosophieprüfung gefehlt, dann hätte die ENS sie zu den mündlichen Aufnahmeprüfungen in Paris eingeladen. Einer ihrer Lehrer empfahl ihr, es in einem Jahr nochmal zu versuchen, aber Charlotte entschied sich gegen die Schulbank und zog 2017 für ein Erasmus nach Freiburg. Eigentlich war sie dort ein Ersti, aber weil die zwei Jahre der Vorbereitungsklasse wie ein Hochschulstudium gezählt werden, stieg Charlotte schon im fünften Semester des Germanistikbachelors ein.
Sie sieht keinen Grund dafür, neidisch auf die Klassenkamerad*innen zu sein, die besser abgeschnitten haben als sie. Von den fünfzig Schüler*innen ihrer prépa hatte es nach zwei Jahren nur einer an eine Grande Écolegeschafft: Jean. „Das war ein ganz spezieller Typ“, sagt Charlotte und zieht an ihrer Zigarette, „ein Deutschfranzose. Wir wussten alle von Anfang an, dass er weiterkommen würde. Er war ein zurückhaltender, eher schüchterner Typ, der jede Sekunde des Tages mit seinen Büchern verbracht hat.“
Natürlich hat auch Charlotte viele dieser Bücher gelesen, die den klassisch humanistischen Unterricht ihrer Vorbereitungsklasse begleiteten: Französisch, Geschichte, Philosophie und eine der alten Sprachen Latein oder Altgriechisch müssen alle lernen. Als Spezialisierung hatte sie Deutsch und Kunstgeschichte gewählt. Die Prüfungsunterlagen schickt die ENS, die die Adresse für angehende Geisteswissenschaftler*innen wie Charlotte ist, an alle Gymnasien des Landes. Meist bestehen diese Prüfungen nur aus einem Blatt Papier, in dessen Mitte eine kurze Frage steht.
In ihrer Philosophieprüfung lautete die Frage „Kann man den Menschen definieren?“ und in Geschichte stand das Thema „Die Institutionen der Kolonisierung und Afrika, 1871 bis 1962“ auf dem Papier. Man hat sechs Stunden Zeit, um die Problematik auszuarbeiten. Die Pariser Jury der ENS erwartet dabei einen Text, der inhaltlich einer kurzen Hausarbeit ähnelt. Die Schüler*innen dürfen aber keine Hilfsmittel verwenden. Quellen und Bezüge lernt jeder für sich im Voraus auswendig, sodass man frei aus dem Gedächtnis zitieren kann.
Was für deutsche Studierende befremdlich klingt, ist in Frankreich ganz normal. Die Standardprüfung ist der sogenannte Commentaire, den die jungen Französ*innen schon in der Schule schreiben lernen und der sie bis in die Uniseminare begleitet. Er folgt einem klaren Aufbau und wird nach einer bestimmten Methode verfasst, die alle in der Vorbereitungsklasse gewissenhaft einstudieren. Alle fünf bis sechs Wochen müssen die Schüler*innen so einen Commentaire in ihren Fächern verfassen. Das simuliert regelmäßig die Situation der echten Aufnahmeprüfung.
Charlotte hat aus dieser Zeit viel Wissen für ihr Studium an der Universität mitgenommen. Manchmal fühlte sie sich dort sogar etwas unterfordert. „Als ich später an der Uni in den Seminaren saß, dachte ich oft, der Anspruch in der prépa war viel höher.“ Sie erinnert sich an ehemalige Lehrer*innen, die zu ihr gesagt haben: „Wer die Aufnahmeprüfungen der Grande École nicht besteht, geht eben an die ‚normale‘ Uni.“
Unter den Schüler*innen herrschte deshalb die Vorstellung, dass die Universität nur Mittelmaß sei. Ein Ort zweiter Klasse, wo man kaum etwas lernt. „Viele von uns dachten, dass dort im Gegensatz zur ENS ja alles ganz einfach sein muss – das war es aber nicht. Erst im fünften Semester an einer Universität einzusteigen, bereitete einigen Leuten Schwierigkeiten. Denn in der Prépa vermitteln sie dir eine sehr breite Bildung, während die Uni speziellere Aufgaben an dich stellt“, sagt Charlotte.
Charlotte ist in Bordeaux zur Schule gegangen, wo sie nach ihrem Erasmus in Freiburg auch an der Université Bordeaux Montaigne Germanistik studiert hat. Vor einem halben Jahr hat sie ihr Staatsexamen abgelegt und ist Lehrerin geworden. Ein Kollege an ihrer Schule hat an der ENS studiert. Jetzt arbeitet er noch die zehn Jahre des Vertrages ab, den er an seinem ersten Tag in der Grande École unterschrieben hat.
Charlotte hat auf dem herkömmlichen Weg Karriere gemacht. An der Schule bleibt sie aber nicht mehr lange, denn sie hat an ihrer alten Universität in Bordeaux eine Promotionsstelle erhalten und wird bald eine Doktorarbeit in deutscher Literatur angehen. „Hätte die ENS mich damals angenommen, stünde ich heute wahrscheinlich an der gleichen Stelle“, sagt sie.
Zurzeit unterrichtet Charlotte Deutsch an einem Gymnasium in Marseilles Quartiers nord, einem sozial stark benachteiligten Viertel der Großstadt. Sie hält kurz inne und sagt dann: „Meinen Schüler*innen kommt so etwas wie die Grande École gar nicht in den Sinn.“