Vielleicht lächelt er freundlich. Vielleicht tut sie es auch. Und er mit dem Hund. Und die Einheimische mit der Einkaufstasche. Genau kann man es nicht sagen. Sie laufen zu schnell vorbei, als dass man ihre Mimik deuten könnte. Sonnenbrillen verdecken ihre Augen, Atemschutzmasken ihre Nasen und Münder.
So sieht die Urlaubsrealität im südfranzösischen Fischerdorf Collioure Anfang September 2020 aus. „Port du masque obligatoire“ heißt es in roten Großbuchstaben auf sämtlichen im Ort angebrachten Hinweisschildern. Die Maskenpflicht gilt hier seit Mitte August von 9-18 Uhr auch draußen. Zumindest an tourismusreichen Tagen ist diese Maßnahme nachvollziehbar. Vor allem dann, wenn sich die Menschen in den engen Gassen aneinander vorbeischlängeln.
Obwohl weit und breit keine Polizei zu sehen ist, scheinen sich alle, ob Tourist*innen oder Ortsansässige, an die Regelung zu halten – mit Ausnahme des trällernden Gitarrenspielers auf den Treppenstufen am Hafen.
Zehn Kilometer nordwestlich in Argelès-sur-Mer wohnen wir, mein Freund und ich – in einem Mobilehome, das äußerlich an ein amerikanisches Gartenhaus erinnert. Ursprünglich hatten wir eine Reise an die Ostküste der USA geplant, die wir wegen Corona absagen mussten.
Die kleinen Häuschen in direkter Nachbarschaft sind fast alle ausgebucht, die übrigen Flächen mit Zelten und Wohnwagen gut belegt. Trotzdem ist Corona auf dem Campingplatz außerhalb der Stadt kein großes Thema. Die Feriengäste haben untereinander kaum Berührungspunkte, sie sind auf ihren Plätzen meistens für sich. An der Rezeption oder beim Einkauf im Mini-Supermarkt sind an diesem ersten Morgen nicht einmal andere Urlauber*innen anzutreffen.
Ausgestattet mit einem Baguette und zwei Croissants, schlendern wir den dreiminütigen Weg zurück zu unserer vorübergehenden 25 Quadratmeter großen Bleibe in einer Sackgasse. Die Pinienbäume links und rechts am Wegrand schwanken schwermütig hin und her. Heute ist es bewölkt und viel zu windig für den Strand, der nur wenige Gehminuten entfernt ist. „Die Sonne brutzelt nicht. Optimales Wanderwetter“, sage ich.
Denn ich habe ein Ziel vor Augen: Der auf einer 800 Meter hohen Bergspitze gelegene mittelalterliche Wachturm Tour de la Massane beziehungsweise den Torre de la Maçana, wie der Teil der Katalanisch sprechenden Bevölkerung Okzitaniens ihn nennt. Von dem Turm und der tollen Aussicht auf das Meer und die Berglandschaft hatte ich in einem Reisetipp-Video über Argelès-sur-Mer erfahren. Der perfekte Ort, um größere Touristenansammlungen in Zeiten von Corona zu meiden.
Gegen 13 Uhr setzen wir uns in unseren silberfarbenen Kleinwagen und fahren Richtung Pyrenäen. Nach einer guten Viertelstunde lotst uns Google Maps eine schmale Straße mit vielen Schlaglöchern hinauf. Meinem Freund ist die Route nicht ganz geheuer, aber er fährt weiter.
Wir stellen das Auto in einer breiten Kurve ab, die laut Maps auch als Parkbucht dienen soll. Außer unserem stehen keine anderen Fahrzeuge da. Noch ein letzter Check, ob alle Fenster und Türen geschlossen sind, dann geht es los mit der ersten Etappe unserer Wanderung. Der Weg ist asphaltiert und vom Turm ist zunächst nichts zu sehen. Nur Berge ringsherum und der Fluss La Massane, nach dem der Turm benannt ist.
Über unseren Köpfen thront der gewittrige Himmel. Mein Rücken ist nass von der drückenden Schwüle und der Anstrengung. Es begegnen uns nur eine Handvoll Touristen – freundlich lächelnd, ein kurzes „Bonjour“ zunickend – alle ohne Masken.
Und dann stoßen wir doch noch auf ein Stück Zivilisation. Es ist ein winziges, vielleicht aus fünf Häusern bestehendes Dorf mit dem Namen Lavail. Zuerst sehen wir niemanden. Doch am Ortsrand, wo der Asphalt zu Schotter wird, sitzt ein älterer Herr im weißen Plastikstuhl auf seinem Grundstück und grüßt uns. Laut Wegweiser sind es noch eineinhalb Stunden bis nach oben. Ein paar Meter weiter und endlich ist der Turm in Sicht.
Wenig später hasten wir über Felsen, Geröll und Wurzeln. Wir haben unterschätzt, wie spät es schon geworden ist. Je höher wir kommen, desto mehr Menschen treffen wir. Die meisten sind wegen der bald einsetzenden Dämmerung schon wieder auf dem Rückweg.
Auch eine ältere, aber ziemlich fitte Französin mit Wanderstöcken kommt uns entgegen. Sie lässt uns in einer der letzten Kurven passieren: „Courage, courage!“, ruft die Dame uns motiviert zu. Abstand halten gestaltet sich auf den schmalen Wegen schwierig, aber sie und alle anderen, denen wir begegnen, nehmen Rücksicht aufeinander und machen Platz, so gut es geht.
Oben angekommen, zeigen sich die letzten Sonnenstrahlen, die durch die hellgraue Wolkendecke dringen. Das Gute daran ist: Die Aussichtsplattform um den halb eingestürzten Turm aus dem 13. Jahrhundert ist außer uns menschenleer und wir können den Blick auf das Meer und die Pyrenäen, ohne an Abstand und Corona denken zu müssen, genießen. Es tut gut, sich niederlassen zu können, frei zu atmen, in die Stille einzutauchen.
Aber die Harmonie währt nicht lange: Wir müssen leider zurück, bevor es dunkel wird. Zurück in das kleine Campingdorf, in dem wir uns vor der Pandemie besser geschützt fühlen als Zuhause. Denn hier müssen wir nicht zur Arbeit, fahren keine Straßenbahn und treffen keine Freunde. Wir fühlen uns geschützt, weil wir allein sind.