Elena promoviert gerade beim Internationalen Graduiertenkolleg und ist schon seit vielen Jahren ehrenamtlich bei ArbeiterKind.de tätig, unter anderem auch als Mentorin. Michael studiert VWL und wurde zuerst als Hilfesuchender auf die Initiative aufmerksam. Jetzt wirkt er als Freiwilliger mit und vertritt ArbeiterKind.de auch auf Messen und in Schulen. Mara steht kurz vor dem Abschluss ihres Studiums in Internationale Wirtschaftsbeziehungen und hat über das ArbeiterKind.de Netzwerk eine Eins-zu-eins-Betreuung zum Thema Berufseinstieg gefunden.

Der Begriff Arbeiterkind entstand zur Zeit der Industrialisierung: Würdet ihr sagen, dass der Begriff heute noch auf eure Zielgruppe zutrifft?

Elena: Tatsächlich ist der Begriff hier in Südbaden eher problematisch, im Ruhrgebiet ist das zum Beispiel kein Thema. Der Name ArbeiterKind.de entstand aus der Überlegung heraus, sich von dem sperrigen Begriff Nicht-Akademikerkind zu lösen. Es kommt eigentlich ganz darauf an, was man selbst damit verbindet.

Wichtig zu beachten ist aber auch die Entwicklung weg vom Arbeiter hin zum Dienstleister, die seit einigen Jahrzehnten stattfindet, vor allem hier in Südbaden. Deshalb hat ArbeiterKind.de den Untertitel: „Für alle, die als Erste in ihrer Familie studieren“. Spätestens dann sollten sich diejenigen, die das betrifft, auch angesprochen fühlen.

Michael: Mir wurde selbst erst bewusst, dass der Begriff stigmatisierend wirkt, als ich merkte, dass andere Leute negativ reagieren. Für mich war das nie ein Problem. Ich habe selbst auch vorher gearbeitet und deswegen finde ich Arbeiterkind als Begriff sogar gelungen.

Mara: Für mich persönlich ist es eigentlich auch ein Begriff der Selbstermächtigung. Wenn man zu Nicht-Akademikerkind wechseln würde, würde das Akademische wieder als Norm bestärkt. Für mich löst der Begriff „Arbeiter“ viel aus: Ich bin mir bewusst, aus welcher Schicht ich komme und weiß, dass ich trotzdem an der Uni sein und vor allem erfolgreich hier sein kann.

Was versteht man überhaupt unter einem Arbeiterkind?

Elena: Für ArbeiterKind.de bedeutet Arbeiterkind, Erstakademiker zu sein. Wir versuchen, auf diejenigen aufmerksam zu machen und denjenigen zu helfen, die als erste in der Familie studieren.

Es gibt abgesehen von finanziellen Hürden auch andere Gründe, weshalb es für Arbeiterkinder schwerer ist, ein Studium anzufangen und vor allem auch durchzuziehen. Woran liegt das?

Michael: Oft ist es nicht nur die finanzielle Unterstützung, sondern auch die emotionale Unterstützung der Eltern und Verwandtschaft, die fehlt. Die können sich das Studieren für ihre Kinder oft nicht vorstellen, weil sie selbst die Möglichkeit dazu nicht hatten. Daraus kann eine Kluft entstehen, die oft dazu führt, dass man sich voneinander entfernt.

Mara: Ich glaube, dass viele Arbeitereltern vom Studium abraten. Meine Mutter wollte auch lieber, dass ich zuerst eine Ausbildung mache, etwas Sicheres. Die Hürde besteht in dem Moment darin, trotzdem den eigenen Weg zu gehen und die fehlende Unterstützung woanders zu finden.

Elena: Wenn es nicht gerade Fächer sind wie Jura oder Medizin, die wirklich sehr griffig sind was die späteren beruflichen Möglichkeiten angeht, dann ist alles andere viel zu abstrakt. Ich habe Literaturwissenschaften studiert. Was kann man damit machen? Alles und nichts.

Das ist auch ein Problem zwischen meinem Vater und mir: Alles, was ich mache, ist für ihn keine Arbeit. Es gibt schon fast eine Zweiteilung, was das betrifft. Auf der einen Seite gibt es Eltern, die wollen, dass ihre Kinder eines Tages bessere Chancen haben als sie selbst. Die unterstützen dann moralisch in der Regel sehr stark. Andererseits gibt es die Eltern, die Angst davor haben, dass ihr Kind etwas Besseres sein könnte und Angst vor der Unilandschaft haben. Da trifft man eher auf Gleichgültigkeit. Im schlimmsten Fall wird generell vom Studium abgeraten.

Wieso reichen herkömmliche Finanzierungsmittel wie BAföG oder Studienkredite nicht aus, um einem Arbeiterkind das Studium zu erleichtern?

Elena: Das schlimmste am BAföG ist, dass es zu spät kommt. Selbst wenn man im Juli bereits eine Zusage für einen Studienplatz hat und dann den BAföGAntrag stellt, bekommt man frühestens im Dezember das Geld. Bis dahin musste man aber schon zwei oder drei Monate von etwas leben. Bis dahin mussten eine Kaution, die ersten Mieten und der Sozialbeitrag bezahlt werden.

Bei manchen Unis ist es sogar so, dass man sich nur immatrikulieren darf, wenn man den Sozialbeitrag bezahlt hat. Diese horrenden Kosten können einfach nicht vom Familiennetzwerk aufgefangen werden. Bevor man einen Studienkredit aufnimmt, muss man wirklich abwägen, ob das sinnvoll ist.

Michael: Ich habe auch Einzelfälle erlebt, in denen Eltern ihrem Kind vom BAföG abgeraten haben, damit sie nach dem Studium keine Schulden haben. Stattdessen arbeiten sie so viel, dass sich die Studienzeit verlängert, was auch wieder zu Nachteilen führt.

Elena: Diese Ansicht haben leider viele, dabei handelt es sich beim BAföG auch um eine Investition in die eigene Zukunft.

ArbeiterKind.de kann in solchen Fällen weiterhelfen.

Mara: In Freiburg gibt es zum Beispiel die Möglichkeit, sich mithilfe einer Empfehlung von ArbeiterKind.de, die nach einer Beratung aufgesetzt wird, um einen Vorschuss zum Studienstart zu bewerben. Dieser wird vom Studierendenwerk Freiburg gestellt.

Elena: Wir machen aber auch so viel mehr als das. ArbeiterKind.de unterstützt schon in der Zeit vor dem Abitur bis hin zum Berufseinstieg, wenn man das möchte. Los geht es damit, dass wir in Schulen Veranstaltungen organisieren, dort Vorträge halten und unsere eigenen Geschichten erzählen. So versuchen wir Mut zum Studium zu machen.

Viele junge Menschen haben Angst vor den großen Themen rund um das Studieren. Für manche ist das Studium überhaupt gar keine Option, weil sie den Gedanken durch ihren familiären Hintergrund schon so verdrängt haben, dass Studieren für sie gar nicht erst infrage kommt. Wir versuchen, diese Angst zu nehmen und stattdessen die Möglichkeiten zu zeigen, die es gibt.

Auch nach dem erfolgreichen Studieneintritt bieten wir Hilfe an: Jeden Monat haben wir ein offenes Treffen. Da können wir Fragen beantworten oder auf die richtigen Ansprechpartner verweisen, wie Ehrenamtliche, die das Studienfach gut kennen oder die Fachschaften selbst. Manchmal suchen Studierende auch nur jemanden, mit dem sie reden können und der sie versteht. Es geht auch darum, den Studierenden zu zeigen, dass sie mit ihren Problemen nicht auf sich alleine gestellt sein müssen.

Mara, du bist Mentee bei Arbeiterkind.de, das heißt, du bekommst Unterstützung bei allen Fragen zum Studium durch eine Mentorin. Wie hast du von der Initiative erfahren?

Mara: Ich habe immer wieder über verschiedene Ecken davon gehört. Als ich mich in Berlin in das Bachelorstudium eingeschrieben habe, habe ich ein Infopaket über eine First-Generation-Aktion bekommen. Damit habe ich mich aber vorerst nicht weiter beschäftigt. Ab und zu haben meine Freunde darüber geredet. Ich habe mir das irgendwann mal genauer angeschaut, da tauchte der Begriff ArbeiterKind.de auch auf.

Ich bin in Berlin schließlich zu einem offenen Treffen gegangen und wollte eigentlich auch Mentorin werden. Nach meiner Ankunft in Freiburg zum Masterstudium hatte ich jedoch wieder so viele Fragen, dass ich jetzt wieder Mentee bin.

Wäre dein Studium anders gelaufen, wenn es ArbeiterKind.de nicht gäbe?

Mara: Es ist auf jeden Fall wichtig, eine solche Anlaufstelle zu haben, wo man sich die nötigen Informationen rund um das Studium einholen kann. Manchmal sind es selbst Kleinigkeiten, die Fragen aufwerfen, wie man mit einem Professor redet, zum Beispiel. So etwas konnte ich dann meine Mentorin fragen. Jetzt konnte ich wichtige Informationen zur Promotion einholen, das hat mir sehr geholfen.

Elena: ArbeiterKind.de wurde 2008 gegründet, zwei Jahre nachdem ich mein Studium angefangen hatte. Wenn es die Initiative damals schon gegeben hätte, dann wäre für mich einiges anders gewesen. Ich hätte zum Beispiel viel früher die Entscheidung getroffen, mein Studienfach zu wechseln. So hat es länger gedauert.

Elena, du bist Mentorin und unterstützt Erst-Studierende durch einen persönlichen Erfahrungsaustausch. Wie läuft das Mentorenprogramm, das von ArbeiterKind.de angeboten wird?

Elena: In erster Linie geht es darum, dass man vor Ort da ist und für Fragen offen ist, wie bei einem unserer monatlichen Treffen. Als Mentor*in ist man in unserem Onlinenetzwerk mit einem Profil angemeldet, in dem man Studienfach und -ort, Erfahrungen über Auslandsaufenthalte und Stipendien aufzählen kann. So können Hilfesuchende über die Suchfunktion gezielt jemanden finden, der sich mit ihrem Anliegen auch auskennt.

Ich mache auch viel Eins-zu-eins-Mentoring. Wenn es zum Beispiel um Bewerbungen auf Stipendien geht, begleite ich denjenigen vom Raussuchen der Unterlagen bis zum Abschicken. Außerdem sind wir viel in Schulen unterwegs, was in Freiburg allerdings momentan etwas schwieriger ist.

Wir stellen auch oft an Berufsorientierungsmessen aus, machen dort auf uns aufmerksam und können schon dort erste Fragen beantworten. Für uns ist es wichtig, eine möglichst passende Beratung anbieten zu können, die immer an die eigenen Möglichkeiten und das eigene Wissen angepasst ist.

Mara: Ich habe auch eine Berufseinstiegsmentorin. Sie hat mir bei den Praktikumsbewerbungen geholfen und hat sich meine Unterlagen angeschaut, das können meine Eltern zum Beispiel nicht. Das Onlinenetzwerk ist auch in der Hinsicht sehr wertvoll, dass man mit einer Person Kontakt aufnehmen kann, die beruflich das macht, wo man selbst einmal hinmöchte, dazu Arbeiterkind ist und erzählen kann, wie sie es selbst da hingeschafft hat.

Elena, du sagst, dass Schulveranstaltungen in Freiburg schwer zu organisieren sind. Woran liegt das?

Michael: Als ich bei ArbeiterKind.de angefangen habe, war es überhaupt schwierig, dass Schulen sich auf das Angebot einließen. Häufig kam die Antwort, sie hätten keinen Bedarf und es gebe überhaupt keine Arbeiterkinder an der Schule. Außerdem gab es damals noch weniger Freiwillige, die bei uns mitgearbeitet haben. Da hatten nicht immer alle Zeit, um bei einem Vortrag zu helfen.  Dadurch, dass unsere Gruppe gerade wächst, hoffen wir, dass es sehr bald doch klappen wird.

Elena: Wir versuchen durch mehr Presse auf uns aufmerksam zu machen und so neue Mentoren zu gewinnen. Der nächste Schritt ist dann, die Schulen wieder zu kontaktieren und hoffentlich auch dort auftreten zu können.

Muss man denn selbst Arbeiterkind sein, um bei der Initiative mitwirken zu können?

Michael: Nein. Es gibt bei uns auch Mentoren, die aus Akademikerhaushalten kommen. Es kann jeder, der sich angesprochen fühlt, kommen und auch mitmachen.

Elena: Ich kenne zwei Mentoren, die Akademikerkinder sind. Sie sagen, dass sie während des Studiums gemerkt haben, dass sie weniger Schwierigkeiten haben als ihre Kommilitonen, die aus einem Nicht-Akademikerhaushalt kommen. Das hat sie schließlich dazu motiviert, mitzumachen.

Was würdet ihr euch von der Politik wünschen, damit es für Arbeiterkinder leichter wird, ein Studium anzufangen?

Elena: BAföG ist ein großes Thema. Es ist erwiesen, dass selbst die Erhöhungen, die jetzt geplant sind, nicht ausreichen, um die hohen Kosten zu decken, die beispielsweise während des Studienbeginns entstehen. Außerdem ist es ein großes Problem, dass bundesweit der gleiche Höchstsatz gilt. Es kann nicht sein, dass Studierende in München so viel Geld empfangen wie Studierende im Ruhrgebiet, dafür sind die Mietkosten bundesweit einfach zu unterschiedlich. Stattdessen sollte sich BAföG nach den Ortsgegebenheiten richten.

Mara: Die Politik und die Unis selbst müssen mehr Beratungsangebote für Minderheiten schaffen. Das betrifft nicht nur Arbeiterkinder, sondern auch Menschen, die entweder selbst migriert oder deren Eltern migriert sind, genauso wie andere Minderheiten. Außerdem könnte sich die Politik dafür einsetzen, dass man die Höhe der Studienbeiträge vom jeweiligen Einkommen der Eltern abhängig macht, wie das in manchen anderen europäischen Ländern der Fall ist.

Warum unterstützt ihr ArbeiterKind.de?

Michael: Mir waren die Organisation und die Menschen von Anfang an sympathisch. Ich habe bei meinem ersten offenen Treffen gemerkt, dass Hilfe gebraucht wird und bin daraufhin regelmäßiger hingegangen. Es ist sehr befriedigend, anderen zu helfen und man selbst wächst auch an der Aufgabe.

Elena: Bei mir hat es auch damit angefangen, dass ich mich tatsächlich damit auseinandergesetzt habe, dass ich Arbeiterkind bin. Früher habe ich geglaubt, dass meine Schwierigkeiten von meinem Migrationshintergrund rühren, aber als ich von ArbeiterKind.de erfuhr, wurde mir klar, dass ich auch Arbeiterkind bin. Wenn ich jetzt zurückblicke, welche Erfahrungen ich nach zehn Jahren an der Uni gesammelt habe, dann möchte ich das einfach gerne weitergeben.