Auf Twitter, Instagram und Co. häufen sich in den letzten Wochen freudige Posts: Endlich kann man sich wieder mit Freund*innen treffen, durch die Stadt bummeln und Essen gehen. Dabei gibt es jedoch auch Menschen, die diese Freude nicht teilen: Wie gehen wir damit um, wenn uns die Rückkehr in die Normalität Angst macht?
Fast eineinhalb Jahre befand sich unser soziales Leben in Stillstand. Studierende haben ihren Alltag nicht mehr an der Uni, sondern in ihren Zimmern verbracht. Der Gedanke, sich in einen vollen Vorlesungssaal zu setzen, mit Kommiliton*innen in die Mensa zu gehen und in der UB zu lernen, kommt einen mittlerweile fast fremd vor.
Stattdessen wurde es zur Routine, morgens den Laptop aufzuklappen und sich in das kommende Zoom-Seminar einzuwählen. Dabei begegneten wir durch die Kontaktbeschränkungen zwangsläufig nicht mehr so vielen Menschen, selbst Freund*innen konnte man, wenn überhaupt, nur selten sehen.
Nach drei Online-Semestern haben wir uns gewissermaßen so an die Situation gewöhnt und zu Hause eingerichtet, dass uns der Gedanke an den früheren Alltag schnell überfordern oder gar Angst machen kann. Amerikanische Forscher sprechen diesbezüglich vom „Cave-Syndrom“ und erklären das Gefühl der Angst auf einem lerntheoretischen Hintergrund.
Durch die lange Zeit der Kontaktbeschränkungen und das Risiko der Ansteckung entstand die Assoziation, dass es gefährlich und bedrohlich sei, sich unter Menschen zu bewegen. Zu Hause fühlen wir uns davor sicher. Gleichzeitig setzte die Gewohnheit ein, nur noch wenig Begegnungen zu haben. Aus dieser Routine müssen wir nun erst einmal wieder ausbrechen – und genau das kann uns Angst machen.
Angst vor Normalität
Grundsätzlich ist Angst ein Warnsignal und eine Art Schutzmechanismus, welcher uns vor gefährlichen Situationen bewahren will. Es erscheint ungewöhnlich, dass wir uns momentan angesichts der Lockerungen vor Dingen fürchten, die letztes Jahr noch völlig normal für uns waren und über die wir uns damals keine Gedanken gemacht haben.
Matic Rozman ist Psychologe beim Studierendenwerk Freiburg Schwarzwald und erklärt diese Angst dadurch, dass es uns Schwierigkeiten bereite, Vertrauen zu fassen, dass von der momentanen Situation keine große Gefahr ausgehe. Dabei fordere es wieder mehr Aktivität, in die Normalität zurückzukehren.
Nach den täglichen Nachrichten über das hohe Ansteckungsrisiko falle es uns nun schwer, entspannt in die Normalität zurückzukehren: „Wir haben diese potentiellen Gefahren weiter im Hinterkopf, auch wenn die Fallzahlen mittlerweile verhältnismäßig gering sind“, sagt Matic Rozman. Außerdem erschwere die Ungewissheit über den weiteren Verlauf der Pandemie, dass sich ein Gefühl der Sicherheit entwickeln könne.
Eine zusätzliche Herausforderung bestehe außerdem für Menschen, die bereits vor der Pandemie mit Ängsten zu kämpfen hatten. Die Zeit zu Hause und die Isolation half unter Umständen nämlich dabei, Ängste besser kontrollieren zu können. Diesbezüglich bedeute eine Rückkehr in die Normalität eine vermehrte Konfrontation mit den eigenen Unsicherheiten, Problemen und Ängsten.
Die Resilienz-Frage: Warum können manche besser mit ihren Ängsten umgehen als andere?
Häufig haben wir das Gefühl, allein mit unseren Ängsten zu sein. Dies kann sich in Anbetracht der vielen Social Media Beiträge, die die Freude über die Lockerungen dokumentieren, noch verstärken. Auch in Gesprächen mit Kommiliton*innen und Freund*innen fühlt man sich oftmals mit seinen Gefühlen allein, wenn andere mit dem Online-Studium besser zurechtkommen oder sich durch ihre WG weniger einsam fühlen.
„Es gibt keine klare Antwort darauf, warum es manchen leichter fällt, in die Normalität zurückzukehren und andere wiederum Ängste entwickeln“, sagt Matic Rozman. Vielmehr seien es vielfältige Faktoren, die eine solche Entwicklung beeinflussen können. Dabei verweist er auf das Studierendenwerk Karlsruhe, das Daten über mögliche Risikofaktoren gesammelt haben.
Besonders betroffen seien demnach Studierende, die noch kein soziales Netzwerk aufbauen konnten, beispielsweise Erstsemester oder internationale Studierende, sowie Studierende, die ihren Studienort oder ihr Studienfach gewechselt haben. Auch finanzielle Probleme und die dadurch entstehende Mehrfachbelastung spielten eine große Rolle. Psychische Risikofaktoren bestünden beispielsweise im Verlust von Bezugspersonen und wichtigen Beziehungen.
Die Belastung könne unterschiedlich ausfallen, je nachdem, wie stark wir uns grundsätzlich nach sozialen Kontakten sehnen. Allgemein aber zeige sich, dass die pandemiebedingte Isolation eine große Belastung für Studierende darstelle. Dabei fehle vielen besonders der Austausch und das Sozialleben, das auf dem Campus stattfinde.
Zurück in die Normalität: Unserer Angst begegnen
Weder gebe es ein Patentrezept dafür, wie wir am besten mit unseren Ängsten umgehen können, noch ließen sie sich auf Knopfdruck ausschalten. Aber wir können lernen, ihnen und unserer Unsicherheit, in die Normalität zurückzukehren, zu begegnen. Matic Rozman formuliert einen Leitgedanken, der uns dabei helfen kann: „Keine Angst ist kleiner, wenn man sich vor ihr versteckt.“
Eine Faustregel besagt, dass wir uns Stück für Stück und jeden Tag etwas mehr mit Dingen konfrontieren sollten, die uns Angst machen. Es geht um eine stückweise Exposition – wie man diese aber umsetzt, kann ganz unterschiedlich sein.
Natürlich sei es wichtig, sich und seine Grenzen zu kennen und uns im Umgang mit unseren Ängsten nicht zu überfordern. „Es geht nicht darum, keine Angst mehr zu haben oder sie ganz zu überwinden, sondern darum, sie gut zu dosieren, sodass man sich vorwärtsbewegt“, sagt Matic Rozman.
Dabei könne ein offener Umgang mit unseren Unsicherheiten und Ängsten helfen. Auch außerhalb einer Pandemie ist es aufregend, neue Menschen kennenzulernen oder in ungewohnten Situationen zu stecken. Jedoch könne es entlastend wirken, wenn wir uns bewusst machen, dass wir dabei alle im gleichen Boot sitzen. Letztlich ist es laut Matic Rozman „die Kunst bei aller Angst, eine gewisse Offenheit für das Neue und Fremde zu haben und sich nicht einfach zu verschließen.“