Colorism: Die Dimensionen von Rassismus
Colorism bezeichnet die bevorzugte oder benachteiligte Behandlung von Personen basierend auf ihrer Hautfarbe. Woher der Begriff kommt, wie Colorism im Alltag deutlich wird, und was man*frau als Weiße Person dagegen tun kann, erklärt Sieglinde Lemke, Professorin für Nordamerikastudien an der Uni Freiburg, im Interview.
Hallo Frau Lemke! Als Professorin der Nordamerikastudien sind Sie Expertin für Amerika im 21. Jahrhundert sowie die Afroamerikanische Kultur der Gegenwart. Die US-amerikanische Kultur ist auch heute noch stark von strukturellem Rassismus betroffen. Was ist „Colorism“ und wie unterscheidet sich das Konzept von Rassismus?
Colorism bezeichnet die Form von Diskriminierung gegenüber dunkelhäutigen Menschen wie auch die bevorzugte Behandlung von Menschen einer helleren Hautfarbe. Es ist eine Unterform des Rassismus, da es auf hierarchischem Denken basiert. Menschen mit einer hellen Hautfarbe gelten demzufolge als schöner und besser. Diese Auf- und Abwertung bezüglich der skin color gibt es auch innerhalb der BIPoC-Community .
Das Ganze muss man*frau jedoch auch im amerikanischen Kontext betrachten, da die „Rassenverhältnisse“ dort historisch ganz anders gelagert sind als in der deutschen Geschichte: In den USA war durch die Sklaverei vom 17. bis ins 19. Jahrhundert eine staatlich sanktionierte Form von Rassismus etabliert, die so weitreichend war, dass man*frau Menschen mit afrikanischer Herkunft die Menschenrechte und Bürgerrechte aberkannte. Colorism dagegen ist eher ein Phänomen des 20. und 21. Jahrhunderts, das insbesondere die psychologischen Aspekte dieser Bewertung in den Blick nimmt.
Wenn sich der Begriff des Rassismus auf die Kolonialgeschichte der USA zurückführen lässt, woher kommt dann der Begriff des Colorism?
Der Begriff wurde zunächst von Alice Walker, der Romanschriftstellerin des Klassikers The Color Purple, 1983 eingeführt. Im Englischen hat sie Colorism als das „preferential treatment of same race people based solely on their color“ definiert. Sie hat also die negativen Auswirkungen der Bevorzugung hellhäutiger Menschen innerhalb der black community mit einem neuen Begriff belegt, um ein Bewusstsein für diese Geisteshaltung zu schaffen.
Bezieht sich Colorism dann also wirklich nur auf die Hautfarbe?
Korrekt. Colorism basiert auf der Annahme, dass eine hellhäutige Person generell attraktiver, intelligenter und auch verlässlicher ist, wogegen Menschen mit dunklerer Hautfarbe sich selbst auch als weniger attraktiv, weniger intelligent einschätzen. So wird das leider auch in vielen Studien, die es mittlerweile zu diesem Phänomen gibt, bestätigt: Eine dunklere Hautfarbe geht häufig mit einem negativen Selbstbild einher.
Wie äußert sich Colorism, abgesehen von dem veränderten Selbstbild dunkelhäutiger Personen, sonst noch im Alltag?
Das ist ein breites Spektrum. Nachgewiesenermaßen sind Menschen mit einer dunkleren Hautfarbe benachteiligt was den Wohnungsmarkt, Heiratsmarkt, aber auch den Arbeitsmarkt anbelangt. Das strukturelle Phänomen, weniger Erfolg zu haben, kann man*frau sowohl unter dem Konzept von Rassismus als auch von Colorism diskutieren.
Ein wichtiges Element, das häufig im Kontext von Colorism diskutiert wird, ist das Passing. Das bedeutet, dass BIPoC Menschen, die sehr hellhäutig sind, sich als Weiß ausgeben, um dadurch Zugang zu vielen Privilegien zu erlangen.
Ein weiteres Phänomen ist das Skinbleaching, also die „Hautaufhellung“: Seit Beginn des 20. Jahrhunderts gibt es in den USA eine Kosmetikindustrie für Produkte, die die Haut Weiß machen oder die die Haare glätten sollen. Die Entwicklung dieser Industrie zum Multimilliarden Business Sektor lässt sich durch Colorism erklären – und nicht nur durch Rassismus.
Colorism als strukturelles Problem zieht sich also durch alle Bereiche des privaten und des öffentlichen Lebens. Was kann ich als Weiße Einzelperson gegen Colorism tun?
Zunächst muss man*frau sich bewusst machen, dass mit Weißsein eine ganze Reihe von Privilegien einhergehen, und dass der alltägliche Rassismus sich nicht in Schimpfwörtern oder der direkten Herabsetzung von Menschen mit einer dunkleren Haut erschöpft. Insbesondere unter Studierenden praktizieren die wenigsten wirklich eine so eklatante Form von Rassismus. Aber es geht viel weiter: Es ist nicht nur die Beleidigung, sondern unser internalisiertes Wertesystem, das dazu führt, dass man*frau sich als Weiße Person bis heute irgendwie „überlegener“ fühlt und – zumeist unbewusst – Privilegien genießt.
Die Dimensionen des Rassismus sind sehr subtil. Es ist ein langer Prozess, bis wir Weiße Menschen das alles begreifen. Viele von uns, die denken, sie seien nicht rassistisch, perpetuieren unwissentlich diesen grundlegenden, systematisch angelegten Rassismus.
White Fragility ist ein Konzept, dass die Angst als rassistisch zu gelten beschreibt. Diese Angst ist das alles überschattende Thema, wenn Weiße Personen etwas sagen wie zum Beispiel: „Oh, ich wollte doch gar nicht rassistisch sein“ und „Das hab’ ich doch nicht so gemeint“.
Man*frau muss als Individuum einfach extrem wachsam sein und sich weiter fortbilden, indem man*frau sich, wenn man*frau mit BIPoC Personen befreundet ist oder interagiert, vergewissert, ob man*frau irgendwelche Mikroaggressionen lanciert hat, ohne es selber zu merken. Es geht hier nicht lediglich um eine Entschuldigung, sondern es müssen auch andere Formen des Umgangs und der zwischenmenschlichen Feinfühligkeit praktiziert werden. Also: Weiße Personen müssen eine extreme Wachsamkeit zeigen und nicht wieder Weißsein zum Thema machen.
Wie wird Colorism in Literatur verhandelt?
Ein Klassiker der amerikanischen Literatur, der das Konzept des Passings aufgreift, ist Nella Larsens gleichnamiger Roman von 1929. Die Verfilmung ist auch auf Netflix zu finden. Hier geht es um zwei Freundinnen, von denen sich eine als Weiß ausgibt, einen Weißen Mann heiratet und dadurch natürlich auch ökonomisch ganz anders privilegiert ist. Sie trifft ihre Freundin, die als Afroamerikanerin lebt, spontan wieder. Im Roman, wie auch im Film, werden Fragen von Selbsttäuschung sowie Täuschung von anderen verhandelt.
Die Konstellation ist ähnlich wie in dem Roman Die Verschwindende Hälfte von Brit Bennett. Dieser Mehrgenerationsroman greift in einer subtilen Art und Weise ein virulentes Thema auf, wie es bislang noch nicht in der amerikanischen Literaturgeschichte verhandelt wurde. Bennetts Roman legt den Fokus auf zwei hellhäutige Zwillingsschwestern: Stella gibt sich als Weiße aus, Desiree nicht. Buchstäblich werden die Schwestern durch die color line und Colorism getrennt. Der Roman unterscheidet sich deutlich von anderen populären Werken über Schwarze Protagonistinnen, die von Weißen Autorinnen verfasst wurden, wie zum Beispiel The Help.
Der Fokus in Die Verschwindende Hälfte liegt nicht allein auf der Konfrontation und Interaktion zwischen Schwarzen und Weißen Amerikaner*innen, sondern auf den Auswirkungen des rassistischen Denkens. In der amerikanischen Kultur wird „Rasse“ konstruiert und zum Gegenstand juristischer, politischer, ökonomischer, psychologischer und kultureller Realität gemacht. Diese soziale Konstruktion von Rasse wird literarisch inszeniert und überhöht, sodass die Absurdität dieses mentalen Konstruktes sehr deutlich hervortritt.
Die Verschwindende Hälfte ist ein wichtiger Gegenwartsroman. Er leistet, nicht zuletzt aufgrund seines Erscheinungsdatums eine Woche nach George Floyds Ermordung, einen wichtigen kulturellen Beitrag zur Black Lives Matter Bewegung. Theoretische Konzepte wie Colorism und racism helfen uns diesen vielschichtigen Roman, aber auch die tragischen Ereignisse vom Mai 2020, besser zu verstehen.
Links
- Hier findet ihr eine ausführliche Rezension zu Die Verschwindende Hälfte von Brit Bennet.
- Im Interview mit Henrike erzählt Ferdinand Kwaku Tenda über Rassismuserfahrungen bei der Wohnungssuche.