Das Verbrechen, das uns gendert
Im März 2019 hielt Mithu Sanyal in Freiburg den Vortrag Rape revisited, der sich an ihr Buch Vergewaltigung anlehnte. Vanessa Nicklaus sprach mit der Kulturwissenschaftlerin über die historischen Haltungen zu Vergewaltigung und darüber, wie wir heute über dieses Verbrechen reden.
Dr. Mithu M. Sanyal ist Kulturwissenschaftlerin, Journalistin und Autorin. Sie lebt in Düsseldorf und doziert an verschiedenen Universitäten deutschlandweit. Im Jahr 2009 veröffentlichte sie ihr Buch „Vulva: Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts“, das mittlerweile in fünf Sprachen übersetzt wurde. 2016 erschien ihr weiteres Buch „Vergewaltigung: Aspekte eines Verbrechens“, für das sie den Preis Geisteswissenschaften international erhielt.
2016 ist dein neues Buch „Vergewaltigung: Aspekte eines Verbrechens“ erschienen. Warum hast du dieses Buch geschrieben?
Eine meiner Motivationen war, dass ich die Art wie wir in unserer Gesellschaft über Opfer sprechen, nicht hilfreich für Heilung sehe. Wir geben Opfern von sexualisierter Gewalt die Botschaft, das ist das Lebensende, das Trauma schlechthin. Natascha Kampusch, die mehr als acht Jahre im Keller von einem Mann eingesperrt wurde, hat sich nach ihrer Flucht nicht verhalten, wie man es von einem Opfer erwartet. Sie ist auf der Straße angegriffen worden, weil sie nicht gebrochen genug war.
Andererseits wurden die Folgen von sexualisierter Gewalt lange nicht ernst genug genommen und es war ein großer Kampf zu sagen: Vergewaltigung ist ein Verbrechen, das wirklich Schaden anrichtet und kein Kavaliersdelikt. Aber Opfer sollten in der Öffentlichkeit oder in Gerichtsverfahren nicht mit langem Trauern beweisen müssen, dass ihnen etwas Schlimmes angetan wurde. Das spricht dem Opfer Individualität ab, denn Menschen gehen unterschiedlich mit gleichen Ereignissen um. Wir brauchen kulturelle Erzählungen über Heilung und Heilungsmöglichkeiten.
Was ist die Essenz deines Buches?
Eine meiner Kernthesen ist, dass Vergewaltigung das meist gegenderte Verbrechen ist. Die gesellschaftliche Darstellung dieses Verbrechens gibt viele Informationen über Geschlechterverhältnisse. Zum Beispiel gibt es im Vergewaltigungsdiskurs nur zwei Geschlechter: Täter und Opfer. Täter sind in den Medien und in unserer Vorstellung eindeutig männlich. Opfer werden dagegen eindeutig weiblich gegendert, sodass man meinen könnte, es sei „natürlich“.
Ich bin damit aufgewachsen, dass ich eine Frau und damit grundsätzlich gefährdet bin. Das fand ich nicht besonders charmant, sondern massiv einschränkend. Wir können uns männliche Opfer von sexualisierter Gewalt, obwohl es sie gibt, schwer vorstellen. Feministin zu werden bedeutete für mich, die Vorstellungen davon was typisch männlich und was weiblich ist, zu dekonstruieren.
Während ich das Buch 2016 schrieb hat die Universität von Tel Aviv den Mythos vom männlichen und vom weiblichen Gehirn widerlegt. Es wäre erschreckend, wenn der wahre Geschlechterunterschied in einer Prädisposition zur Vergewaltigung auf der einen Seite und vergewaltigt zu werden auf der anderen Seite liegen würde.
Heißt das, dass es keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt, wenn es um Vergewaltigung geht?
Ich habe keine Ahnung, wie viele Opfer von Vergewaltigung es wirklich gibt und welche davon männlich oder weiblich sind. Geschlecht ist ein wichtiger Marker, wenn es um sexualisierte Gewalt geht, aber nicht der einzige und noch weniger ein naturgegebener. Beispielsweise spielen Machtverhältnisse eine bedeutende Rolle. Wir leben in einer Gesellschaft, in der Männer verhältnismäßig mehr Macht haben als Frauen. Wie würde es aussehen, wenn dem nicht so wäre?
Ein wichtiges Forschungsergebnis ist, dass der gesellschaftliche Ort einen sehr hohen Einfluss auf die Anwendung von sexualisierter Gewalt hat. Sogar höher als das Geschlecht. Im Gefängnis gibt es viel mehr Vergewaltigungen als im Rest der Gesellschaft, auch im Militär gibt es viel mehr Vergewaltigungen als in der Zivilbevölkerung. Je hierarchischer Systeme sind, desto mehr sexuelle Grenzen werden überschritten. Wenn wir präventiv rangehen wollen, wäre es also auch wichtig darauf zu achten, Systeme egalitärer zu gestalten.
Auf dem Cover des Buches ist in riesigen roten Buchstaben das Wort Vergewaltigung auf schwarzem Hintergrund zu lesen.
Das Buch gehört zur Serie der Flugschriften der Edition Nautilus. Die Bücher der Autorin und Aktivistin Laurie Penny erscheinen dort auch. Alle Bücher haben das gleiche Layout. Ich mag das inzwischen, weil da kein Bild drauf ist. Wir haben unglaublich beknackte Visualisierungen von Vergewaltigung, wie etwa in der Ecke kauernde Mädchen und Frauen. Deshalb ist mir dieses Cover lieber. Was ich außerdem daran mag, ist, dass der Begriff Gewalt in einer eigenen Zeile steht. „Gewalt“ sollte bei diesem Verbrechen im Vordergrund stehen, deshalb wurde 1974 der juristische Begriff Vergewaltigung gewählt.
2009 hast du das Buch „Vulva: Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts“ geschrieben. Inwiefern gibt es für dich eine Verbindung zwischen den beiden Büchern?
Wir haben ein Konzept von Ehre, das bei Frauen im Genital verortet wurde, während die Ehre des Mannes im öffentlichen Raum verhandelt wurde, beispielsweise auf dem Schlachtfeld. Das heißt, nur eine Frau hatte eine Ehre, die durch die Vergewaltigung gestohlen werden konnte. Diese Ehre wurde an das Vorhandensein des Jungfernhäutchens – das es nicht gibt – und an den Status der ehrbaren Ehefrau oder Witwe festgemacht.
Das englische Wort „rape“ kommt von Raub. Bei diesem Verbrechen ging es um den Ehrenraub. In Deutschland wurde noch bis 1974 das „charmante“ Wort Notzucht verwendet. Not ist Gewalt und Zucht ist ziehen, also auch der Ehrenraub. Im Umkehrschluss musste die Frau beweisen, dass sie ihre Ehre davor nicht „verschlampt“ hatte. In anderen Worten, dass sie wirklich eine Ehre hatte, die gestohlen werden konnte. Deshalb gab es Überlegungen, dass Sexarbeiterinnen nicht vergewaltigt werden konnten, da sie keine Ehre hatten.
Welche historischen Vorstellungen über Sexualität prägen die Deutung von Vergewaltigungen?
In unseren kulturellen Erzählungen wird das männliche Genital als aktiv und aggressiv dargestellt, während das weibliche Genital als passiv gilt. Wenn wir uns die Sexualwissenschaft des 19. Jahrhunderts anschauen, dann hat die Frau gar keine eigene Libido. Die Frau muss nein sagen und nein heißt in Wirklichkeit ja, weil die zivilisierte Frau nein sagt. Sonst würde der Mann denken: Sie ist zu leicht zu haben.
Die Sexualwissenschaft behauptete, dass die Frau der Urzeit vor dem Geschlechtsverkehr die Kraft des Mannes auf die Probe stellte. Derjenige der sie am besten überwältigen konnte, war dann der beste Jäger. Es gibt keine wissenschaftlichen Beweise hierfür. Das sind reine Fantasien, die auf die Urzeit projiziert wurden.
Hinweis: Der Vortrag im März 2019 wurde vom Gleichstellungsbüro der Uni Freiburg und der Beratungsstelle Frauenhorizonte organisiert. uniCROSS hat mit Mithu Sanyal über ihre Bücher gesprochen. Der erste Teil des Interviews wurde im Rahmen des V! Projects am 25.6.2019 veröffentlicht.
Das Interview mit Mithu Sanyal „Die Vulva und ihre Potenz“ ist hier zu finden.