Am Anfang sind die Fragen leise und zögerlich. Woher kommst du? Wie sah deine Fluchtroute aus? Mit der Zeit gehen die Fragen tiefer. Hat die Flucht noch emotionale Auswirkungen? Hast du noch Kontakt zu deinen Freund*innen im Irak? Viele der Schüler*innen der 10. Klasse am Droste-Hülshoff Gymnasium schauen anfangs unsicher zu Boden, als Siham von ihrer Flucht erzählt.
Robin und Siham sind heute in der Klasse zu Besuch, um einen direkten Kontakt mit Siham und ihrer Fluchtgeschichte aufzubauen. Robin studiert Liberal Arts & Sciences an der Uni Freiburg und engagiert sich ehrenamtlich bei den Zeugen der Flucht. Robin wurde im Rahmen der kritischen Einführungstage zum Semesterstart auf den Verein aufmerksam. Heute begleitet sie Siham und gibt den Schüler*innen zu Beginn eine kurze Einführung zum Thema Migration.
Robin war schon mehrmals als Begleitung bei Besuchen in verschiedenen Einrichtungen dabei und kann die Grundbegriffe zum Thema Migration zu erklären. Sie weiß, dass Debatten um Flucht und Migration oft von Vorurteilen und Ängsten geprägt sind. Sie fragt die Schüler*innen: Was denkt ihr, wer gilt denn überhaupt als geflüchtete Person? Die Antworten sind vielseitig. Jemand, der aufgrund von Naturkatastrophen fliehen muss. Jemand, der aufgrund von Krieg sein Land verlassen muss. Jemand, der aufgrund von unmenschlichen Lebensbedingungen in seinem Herkunftsland fliehen muss. Sie fragt: Was bedeutet Integration für euch? Die Schüler*innen antworten: Dass eine Person sich einlebt, zur Schule gehen kann, Freunde hat und weiß, wo sie Unterstützung findet. Auf jeden Fall nicht, sagen sie, sich komplett kulturell anzupassen oder sogar seine Religion abzulegen.
Die Schüler*innen haben heute die Möglichkeit, nicht über, sondern mit Migrant*innen zu reden. Der Verein der Zeugen der Flucht wurde 2016 von Hanna Rau und Lisa Ertle in Freiburg gegründet. Aus der Beobachtung heraus, dass Flucht und Migration oft von Vorurteilen und Ängsten geprägt sind, entstand die Idee, Leute mit und ohne Fluchterfahrung zusammenzubringen. Mittlerweile haben sich Lokalgruppen in Dresden, Münster, Leipzig und Rosenheim gegründet. Zeugen der Flucht e.V. ist ein ehrenamtlicher Verein. Für die Unterrichtsbesuche gibt es eine Aufwandsentschädigung von 20 Euro.
Jede*r kann bei Zeugen der Flucht mitmachen
Durch die flexiblen Zeiten können sich auch Studierende engagieren. Die Arbeit des Vereins der Zeugen der Flucht will Vorurteile abbauen und Diskriminierung vorbeugen und wird deshalb durch das Projekt „Demokratie leben!“ vom Bund gefördert. „Demokratie leben!“ finanziert gezielt Projekte, die Demokratie fördern, Vielfalt gestalten und Extremismus vorbeugen. Diese Projekte sollen ziviles Engagement, demokratisches Verhalten, Vielfalt und Toleranz in der Gesellschaft stärken. Auch Zeugen der Flucht e.V. will, wie auf der Website zu lesen ist, „eine tolerante, gleichberechtigte Stadtgesellschaft schaffen und diese nachhaltig verankern.“
Adressat*innen des Programms der Zeugen der Flucht sind Kinder und Jugendliche, aber auch Eltern, Pädagog*innen, zivilgesellschaftliche Akteur*innen sowie Multiplikator*innen. Über das Programm können darüber hinaus Aktivitäten gegen jegliche Form von Diskriminierung und Rassismus sowie für die Stärkung zivilgesellschaftlichen Engagements gefördert werden.
Siham erzählt von ihrer Flucht
Die Jugendlichen in der Klasse am Droste-Hülshoff Gymnasium sind interessiert und hören aufmerksam zu: Siham kommt aus dem Irak und lebt seit fast acht Jahren in Deutschland. Sie ist mit ihrem älteren Bruder, ihrem kleinen Bruder und zwei Nichten, ohne ihre Eltern, durch sieben Länder vor dem Islamischen Staat, dem IS, geflohen. Zu Fuß, mit dem Zug, mit der Hilfe von Organisationen und Schmugglern. Von der Türkei nach Griechenland sogar einige Stunden mit dem Schlauchboot. Ein Schüler fragt: Wie findet man Schmuggler? Im Internet?
Als Siham in Deutschland ankam, war sie gerade 18 Jahre alt geworden. Zu dieser Zeit lebte sie mit ihren Geschwistern zu acht in einer Zweizimmerwohnung. Da man mit der Volljährigkeit kein Recht mehr auf Schulbildung an, hat sie sich selbst dafür eingesetzt, weiter in die Schule zu gehen. Im Irak hatte sie immer gute Schulnoten. Sie kam in eine 10. Klasse an einer Realschule. Sie erzählt, dass sie dort schwierige Erfahrungen gemacht habe. Eine Lehrerin ließ sie an der Tafel eine Aufgabe lösen. Siham wusste die Antwort, aber nicht auf Deutsch. Die Lehrerin habe das Schweigen missverstanden und fragte, warum sie nicht auf die Hauptschule ginge. Daraufhin hatte Siham ein Gespräch mit der Schulleitung. Siham erzählt, dass sie sagte: „Gebt mir einen Monat Zeit.“
Siham konnte auf der Schule bleiben und machte ihren Realschulabschluss. Ab 2019 machte sie eine Ausbildung zur operationstechnischen Assistentin. Trotzdem musste sie immer wieder ihren Aufenthaltstitel erneuern. Eine Schülerin fragt: „Wie ist es, das alle drei Jahre zu beantragen, macht dir das Gedanken, vielleicht abgeschoben zu werden?“ Siham antwortet darauf: „Ja schon, aber ich habe seit ich hier bin immer gearbeitet und war in der Schule. Ich habe mir immer wieder gesagt: Sollte ich nicht eigentlich bleiben dürfen?“
Siham ist seit 2019 Erzählerin bei Zeugen der Flucht e.V.
Damals hat sie ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) an der Uniklinik gemacht und ist durch ein Seminar auf Zeugen der Flucht aufmerksam geworden. Nach dem Seminar hat sie selbst gefragt, ob sie mitmachen kann.
Am Anfang sei der Austausch für Siham eine gute Möglichkeit gewesen, ihr Deutsch zu verbessern. Bei jedem Vortrag schwinge auch immer Unsicherheit mit, ob sie ihre Geschichte so erzählen könne, wie sie wirklich passiert ist. Mit der Zeit fühle sie sich nun wohler und es tue ihr gut, über ihre Erlebnisse zu berichten.
Mittlerweile ist das Erzählen ihrer Geschichte zur Routine geworden. Es seien schwierige Erinnerungen, aber es tue ihr gut, darüber zu sprechen.
„Ich bereite mich nicht auf die Gespräche vor, denn das ist meine eigene Geschichte und ich weiß, wie es für mich abgelaufen ist. Meistens sind es dieselben Fragen, die die Zuhörer*innen stellen, aber manchmal kommt eine neue Frage, über die ich vorher gar nicht nachgedacht habe oder vergessen habe, darüber nachzudenken.“
Siham sagt auch, dass das Alter ihrer Zuhörer*innen eine Rolle spiele. In der 9. und 10. Klasse wachse das Interesse der Schüler*innen zum Thema Migration und sie stellen tiefergehende Fragen. Allerdings fällt ihr auf: „Bei Studenten finde ich, die trauen sich nicht. Ich glaube, die denken viel nach, ob sie die Fragen so stellen können und was jetzt als Antwort kommt. Oft erzähle ich viel mehr, als sie fragen. Sie kommen eher danach noch einzeln für Fragen.“
Eine Schülerin fragt: „Kannst du dir vorstellen, die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen?“ Siham nickt. Auch wenn es viel Papierkram, ewige Bearbeitungszeit und Kosten bedeutet. Sie möchte nicht mehr alle drei Jahre ihr Aufenthaltsrecht in Deutschland beantragen müssen – denn die Angst, dass es vielleicht nicht verlängert wird, bleibt.
Und wie findest du das Essen in Deutschland? Siham und die Schüler*innen lachen. „Nicht mein Geschmack, aber okay“, sagt sie lächelnd.