Hallo Herr Höppner, Sie beschäftigen sich als Professor für Neuere deutsche Literatur auch mit Popkultur, unter anderem mit Comics. Seit wann gibt es das Medium Comics überhaupt?
Das ist eine Frage, die sehr unterschiedlich beantwortet wird. Es gibt unterschiedliche nationale Traditionen und Kriterien, darauf zu gucken. In den USA sagt man beispielsweise, man kann erst dann von Comics sprechen, wenn man eine populäre Produktionsform hat, wie zum Beispiel eine Zeitung. Solche Zeitungscomics gab es zuerst 1896 in den USA und damit fängt der Comic aus dortiger Sicht an.
In anderen Ländern sieht man das anders. In Deutschland gibt es die Tradition, die Wilhelm Busch und Bilderbögen ins Spiel bringt, also Ein-Blatt Drucke mit komischen Bildergeschichten aus dem 19. Jahrhundert. In Japan, wo der Manga herkommt, der auch in Deutschland mittlerweile mit das umsatzstärkste Segment ist, gibt es ebenfalls eine sehr lange Tradition von Bildergeschichten. Der Terminus Manga ist dabei von dem japanischen Grafikkünstler Katsushika Hokusai geprägt, von dem man vielleicht das berühmte Bild „Die große Welle vor Kanagawa“ kennt.
Ich würde sagen, es gibt einen gleitenden Übergang und nicht den einen Punkt, an dem der Comic beginnt. Auskristallisiert ist er so um 1900, aber es gibt nicht den einen Weg, der dahinführt, sondern verschiedene Wege, die dann in unterschiedlichen Nationen auch unterschiedlich zusammentreffen.
Woran liegt es, dass der Comic häufig als trivial bezeichnet und nicht ernstgenommen wurde?
Ich glaube, das liegt daran, dass er eben ursprünglich in einem Massenmedium publiziert wurde, nämlich in Zeitungen. Um ein möglichst breites Publikum zu bekommen, erzählte man kurze lustige Geschichten. Dadurch, dass Zeitungen ein tägliches oder wöchentliches Medium sind, waren das immer kurze, abgeschlossene Geschichten, in denen man nicht all zu viel erzählen konnte. Diese Comics waren eigentlich für Erwachsene, auch wenn Kinder mitlasen. Ende der 1930er-Jahre kamen dann die auf billigem Papier gedruckten Comic-Hefte dazu. Das war dann wirklich als eine Art Trivialmedium zur Unterhaltung gedacht, in erster Linie für Kinder und Jugendliche, im Zweiten Weltkrieg produzierte man dann auch gezielt für US-Soldaten.
In den 50er-Jahren war der Höhepunkt, an dem Comics, gerade in Europa, massiv auftraten und als absolute Unkultur galten. In Westdeutschland gab es 1953 ein Gesetz gegen „Schmutz und Schund“. Das wollte man eigentlich vor allen Dingen gegen Pornographie und Nazi-Propaganda einrichten, de facto wurden damit aber größtenteils Comics zensiert und verboten, weil die als gewaltverherrlichend galten. Und in der DDR waren Comics per se erstmal verdächtig, weil sie das Medium des sogenannten Klassenfeindes waren, also des Kapitalismus. Das Land hat dann aber mit dem Aufbau einer eigenen „sozialistischen“ Comicindustrie reagiert. „Mosaik“, den bekanntesten Titel, gibt es noch heute.
In den USA gab es einen aus Deutschland emigrierten Psychologen, Fredric Wertham, der Comics für Gewaltverherrlichung und Straftaten von Jugendlichen verantwortlich gemacht hatte. Seine Kampagne war sehr populär, bezog sich aber eigentlich nur auf die Horrorcomics eines bestimmten Verlags. Aber das wurde so breit rezipiert, dass man sagte, Comics sind generell schlecht. Das ging so weit, dass die großen US-Verlage 1954 eine Art Selbstzensur einführten, den so genannten Comics Code. Diese Abwertung hatte Nachwirkungen. Ich war Kind in den 70ern und habe mir das Lesen vor allem mit Micky Maus-Comics selbst beigebracht. Aber ich hatte einige Freunde, die durften Micky Maus nicht lesen, weil das zu trivial und gewalttätig war. Dafür Asterix, wo reihenweise Römer verprügelt werden. Das galt als Bildung.
Anfang der 2000er fing es dann an, dass auch das Feuilleton in Deutschland dieses Medium des Comics wirklich ernstgenommen hat und es dort auch heute einflussreiche Fürsprecher gibt, die sehr viel Ahnung von Comics haben.
Lassen sich Comics heute einem bestimmten Lesealter zuordnen?
Nein, es gibt für jedes Lesealter das passende Genre. Superheldencomics wurden zum Beispiel immer auch von Erwachsenen rezipiert und es gab in den 60er-Jahren in den USA und später auch in Europa Underground-Comics, in denen Dinge behandelt wurden, die in anderen Titeln nicht vorkamen, wie Sex, Gewalt oder Drogen.
Auch in Deutschland hat sich nach und nach eine Comic-Fangemeinde herausgebildet, die auch diese Art von Comics gelesen haben und nicht bei den Comics für Kinder und Jugendliche stehengeblieben sind.
Wenn ich Vorträge halte, auch vor älteren Leuten, dann kommen die Lesebiografien der 50er-Jahre ans Licht, wie sie teilweise heimlich mit der Taschenlampe im Bett, damit die Eltern das nicht mitbekommen, Micky Maus oder den Detektivcomic Nick Knatterton gelesen haben. Viele Leute, die damals damit sozialisiert wurden, lesen auch heute noch Comics. Es gibt auch eine ganze Gemeinde von sogenannten „Donaldisten“, also Disneys Donald Duck Anhänger, die auch einen richtigen Verein haben. Die meisten Mitglieder sind Männer jenseits der 50.
Was ist der Unterschied zwischen einem Comic und einer Graphic Novel?
Das ist, wie der Anfang der Comics, wieder eine Glaubensfrage. Der Begriff tauchte zuerst in den 60ern auf und wurde dann in den 70ern von dem sehr einflussreichen Zeichner Will Eisner aufgegriffen, der damals „A Contract With God“, eine Trilogie mit anspruchsvollen Geschichten, gezeichnet und mit diesem Etikett beworben hat.
Hinter diesem Begriff steht für mich vor allem die Behauptung eines Anspruchs. Nämlich die Behauptung, Comics sind eben nicht trivial und können genauso tief und komplex erzählt werden, wie das Romane können. Andere Leute sehen das aber wieder anders und halten das für einen reinen Marketingterm.
Ein Meilenstein war ab 1986 „Maus“ von Art Spiegelman, der die Geschichte eines Holocaust-Überlebenden in Tierform erzählt. Die Juden sind die Mäuse, die Deutschen die Katzen. Das wird aber im Laufe der Geschichte auch gebrochen und reflektiert. Das war sehr anspruchsvoll.
Mittlerweile gibt es ein sehr breites Angebot, das sich aber auch in der Publikationsform verlagert hat. Graphic Novels werden gar nicht mehr in den traditionellen Formaten Heft oder Album, wie man das von Asterix oder Lucky Luke kennt, veröffentlicht, sondern zielen auf den traditionellen Buchmarkt ab. Das sind oft literarische Stoffe, die aufgegriffen werden, teilweise sehr schwierige autobiographische Stoffe, die zum Beispiel Rassismus, Feminismus oder Transidentität behandeln.
Lassen sich in der Geschichte des Comics bestimmte Veränderungen im Themenrepertoire ausmachen?
Ja, am Anfang waren das tatsächlich, wenn ich jetzt mal von den amerikanischen Zeitungscomics ausgehe, einfach lustige Geschichten auf einer Seite. Und dann ist nach und nach immer mehr dazugekommen. Ab den 30er Jahren die Superhelden, zuerst Superman und dann kamen ziemlich schnell einzelne Figuren, wie zum Beispiel Captain America oder Batman, hinterher.
In Frankreich und Belgien hat man schnell angefangen, anspruchsvoller zu zeichnen, in einem langsameren Rhythmus und zugleich in Zeitschriften zu veröffentlichen und dann auch erwachsene Themen aufzugreifen, aber immer noch für ein breites Publikum.
Und seit den 80er-Jahren kommen diese ernsten Stoffe, die Graphic Novels, dazu.
Welche erzählerischen Mittel werden im Comic genutzt?
Der Comic ist eigentlich eine sequenzielle Erzählung. Das hat wieder der schon erwähnte Will Eisner geprägt. Das Besondere am Comic ist, dass wir aus diesen einzelnen, abgetrennten Bildern, die räumlich auf einer Seite verteilt sind, eine laufende Geschichte konstruieren. Das Bild selbst ist statisch, aber dadurch, dass wir eine Sprechblase reinsetzen, die natürlich linear funktioniert, Geräusche einsetzen oder auch einfach nur ein Bild von links nach rechts lesen, bringen wir ein Element der Zeitlichkeit rein.
Es gibt Versuche zu sagen, welche Arten von Abfolgen es gibt und wie sich die einzelnen Bilder, die -Panels-, aufeinander beziehen. Manchmal haben wir einen kleinen Zeitraum, der von Bild zu Bild vergeht, und manchmal haben wir auch so etwas wie einen Szenenwechsel, wo auf dem nächsten Bild dann etwas völlig anderes geschieht. Oder wir haben etwas, was aussieht, wie eine Abfolge von Bildern, aber was eigentlich verschiedene Aspekte desselben Objektes zeigt. Da gibt es verschiedene Stilmittel.
Man muss praktisch als Rezipient*in die Lücken zwischen den Bildern füllen, wie wir es ja bei den Worten in einem Fließtext auch machen. Bei den Bildern haben wir es meistens mit Konglomeraten aus Text und Bild und vielleicht noch einem reingezeichneten Geräusch zu tun, die komplexer sind als einfach nur ein einzelnes Wort. Dafür sind es dann nicht so viele Bilder auf einmal wie es Worte in einem Romantext sind.
Was verändert sich dabei, wenn Texte in das Medium des Comics übertragen werden?
Es ist ähnlich wie bei Literaturverfilmungen. Ich glaube, es gibt da nicht die eine adäquate Art der Transformation, sondern das hängt immer sehr mit der individuellen künstlerischen Vision des jeweiligen Künstlers oder der jeweiligen Künstlerin zusammen. Es gibt Leute, die eine möglichst konventionelle Umsetzung wählen, also möglichst versuchen, 1:1 abzubilden, was in den Vorlagen steht. Es gibt aber auch Leute, die das kreativ abwandeln und beispielsweise kanonisch literarische Texte so nacherzählen und verfremden, dass diese fast ohne Worte auskommen.
Man kann nicht alles abbilden, wie bei einer Literaturverfilmung auch, man muss bestimmte Aspekte auswählen und umsetzen.
Allgemeine Regeln gibt es nicht. Natürlich sollte der Text wiedererkennbar sein, aber ich finde genau wie bei Literaturverfilmungen ist es falsch zu fragen, ob denn der Text richtig umgesetzt ist. Weil das immer eine Frage der einzelnen künstlerischen Vision ist.
Welchen Einfluss haben die Auswirkungen der Globalisierung auf den Comic?
Tatsächlich werden Themen wie Globalisierung, Rassismus und Einwanderung sehr stark vom Comic thematisiert und sind wichtige Themen in der westlichen Graphic Novel geworden. Soweit ich das sehen kann, vor allen Dingen innerhalb amerikanischer und europäischer Comics der letzten 20 Jahre.
Es gibt zum Beispiel den frankokanadischen Künstler Guy Delisle, der in Europa lebt und Comicreportagen aus anderen Ländern wie Palästina oder Nordkorea schreibt, in denen er mal eine Zeit lang gelebt hat. Seine Frau ist bei „Ärzte ohne Grenzen“ und arbeitet in den verschiedenen Gegenden und er begleitet sie und protokolliert seine Eindrücke.
Insofern ja, die Globalisierung hat innerhalb der westlichen Kulturen auf jeden Fall einen starken Einfluss auf die Comic-Industrie gehabt, und wahrscheinlich in Europa stärker als in Amerika, weil dort zumindest der Markt zahlenmäßig einfach immer noch sehr stark vom Superheldengenre dominiert wird und das heißt fast ausschließlich Marvel und DC.