Diskutieren mit dem 4-Ohren-Modell
Kiara von uniONLINE hat mit der Linguistik-Professorin Helga Kothoff über die heutige Gesprächskultur in politischen Debatten gesprochen und wieso sie diese als problematisch wahrnimmt. Inwiefern dabei das 4-Ohren-Modell in Konfliktgesprächen helfen kann und wieso sich Helga Kothoff viel mehr Differenzierung in Gesprächen wünscht.
Hallo Frau Kothoff! Als Professorin für germanistische Linguistik ist einer Ihrer Themenschwerpunkte die Gesprächsführung beziehungsweise Gesprächsanalyse. Wie nehmen Sie die Gesprächskultur in der aktuellen politischen Debatte wahr?
Ich nehme diese als problematisch wahr. Ich beschäftige mich seit 35 Jahren mit unterschiedlichen Gesprächstypen und habe gegen Ende der 80er Jahre Analysen von Fernsehdiskussionen gemacht.
Und da gab es TV-Formate, die schon lange nicht mehr existieren im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Zum Beispiel Club 2 aus Österreich. Die Sendung konnte man aus dem österreichischen Fernsehen damals in Deutschland überall empfangen.
In der Talkshow wurden meist sieben Personen eingeladen, wie zum Beispiel Expert*innen oder Vertretende verschiedener Parteien. Und diese diskutierten dann open end, manchmal über vier Stunden lang und die Moderation hat sich dabei sehr zurückgenommen. Der Club 2 hat daraufgesetzt, dass zu späterer Stunde die Leute dann auch auspackten und sie dabei auch mal die Kontrolle verloren. Das hat auch funktioniert und für das Publikum war das interessant. Das würde sich heute kein Sender mehr trauen!
Ich benutze das als ein Beispiel dafür, was öffentlich-rechtliche Sender damals noch gemacht haben. Die waren viel weniger vorstrukturiert als heute, haben viel stärker „laufen lassen“, was dann auch mit sich brachte, dass die Teilnehmenden sich gegenseitig herausgefordert haben. Das geschah übrigens meist auch auf eine gute Art, sie wurden selten ausfallend.
Wie blicken Sie auf die heutigen politischen Talkshows?
Heutzutage haben wir ganz andere Ausrichtungen. Ich habe den Eindruck, dass in den politischen Talkshows zum Beispiel Personen aus der Linkspartei viel weniger Redezeit haben als die aus anderen Parteien. Als gebe es in der Sendung eine bereits unausgesprochene Bestätigung dafür: „Ihr seid Außenseiter“. Ich beobachte das bei „Hart aber fair“ oder bei Miosga in dieser neuen Sonntags-Runde.
Um bei Miosga zu bleiben, da hatte ich mir auch mehr davon versprochen. Politiker*innen können sich da stark selbst darstellen. Das ist eine sehr kommerzialisierte Seite, die auch einhergeht mit Personalisierung. Dann wird zum Beispiel Annalena Baerbock etwas zu ihren Kindern gefragt oder Friedrich Merz, dem eine andere persönliche Frage gestellt worden ist. Das sind komische Trends. Beide haben wichtige politische Rollen und ich fand, dass die in den beiden Sendungen letztendlich mit ihren Inhalten, die sie vertreten, wenig herausgefordert wurden.
Ich frage mich dann, ob das funktional gewesen ist.
Bezogen auf ein Konfliktgespräch: In einer Demokratie ist ein sehr wichtiger Aspekt, sich mit anderen Meinungen auseinanderzusetzen und sich in Personen hineinzuversetzen, also Empathie zu zeigen. In Konfliktgesprächen gibt es oft verschiedene Kommunikationsebenen und da könnte man den Bogen zum 4-Ohren-Modell von Schulz von Thun spannen. Können Sie das Modell kurz erklären?
Schulz von Thun hat beim Ohren-Modell vier Aspekte unterschieden. Einen Aspekt der Selbstkundgabe der Sprecher*in. Dann gibt es eine Appellseite. Das ist das, was sich an die empfangende Seite richtet. In der Botschaft selbst unterscheidet er Sachinhalt und Beziehungshinweise. Wichtig ist, dass Beziehungshinweise in der linguistischen Gesprächsführung immer unterschieden werden. Es gab vor Schulz von Thun schon andere Theorien, die das deutlich gewichtet hatten.
In den Medien haben wir ja verschiedene Empfängerinstanzen: Das unterschiedliche Publikum vor dem Fernseher. Aber oft sind ja auch Leute im Studio und es gibt ein direktes Gegenüber, wie zum Beispiel früher bei Anne Will. Da sprachen die Gäste mit ihr und bezogen sich auch aufeinander, dann hat man eine primäre Adressatin. Das kann eine anwesende Medienfrau sein, aber die Runde ist indirekt ja immer mitadressiert und das Publikum vor dem Fernseher ist auch mitadressiert. Das heißt, hier wird aufgespalten. Diese Sicht hat Tradition in der Linguistik und in der Soziologie. In den Medien haben wir ganz oft drei, vier Instanzen.
Aber generell wird viel zu schnell auf Pro und Contra hin gebürstet. Und da kann man alle möglichen Themen nehmen. Zum Beispiel bin ich entweder für Friedensverhandlungen mit der Ukraine, dann werden da viele Implikationen reingelegt. Beim Papst hat man das gerade gesehen, er soll gesagt haben, die Ukraine solle kapitulieren. Das hat er nie gesagt. Der hatte ganz andere Implikationen.
Dann geht es wieder nur um voll Pro und voll Contra. Es gibt keine Differenzierung mehr, keine Konzession, kein Abwägen. Das ist das Hauptproblem bei den heutigen Diskussionen. Ich glaube, dass das durch die neuen Medien getriggert wird. Es fehlt an Differenzierung und das reicht bis in die Qualitätsmedien hinein. Abwägen, sich an eine Meinung überhaupt mal herantasten, scheint out zu sein.
Ist das 4-Ohren-Modell für Konfliktgespräche praxistauglich?
Meiner Meinung nach muss die Sachinhaltsebene weiter differenziert werden: Argumentation würde zum Beispiel in die Sachinhaltsebene eingehen.
Und dann habe ich unheimlich schnell mehr als Pro und Contra. Ich habe zum Beispiel Teil-Pro und Teil-Contra und dann Begründungen, wie und was wird überhaupt begründet?
Heute wird alles Narrativ genannt. Das finde ich auch zu grobklotzig. Ganz oft geht es überhaupt nicht um Narration, sondern darum, für einen bestimmten Standpunkt zu argumentieren.
Die Beziehungshinweisebene muss unbedingt beachtet werden. Und das ist ja dann oft die Frage: Wird von oben herab oder auf gleicher Ebene kommuniziert? Aber auf der Beziehungsebene kann zum Beispiel jemandem unterstellt werden, er habe wie ein Oberlehrer kommuniziert. Zum Beispiel bei Habermas. Er hat vor zwei Jahren, in Bezug auf die Ukraine in der Süddeutschen Zeitung für Verhandlungen plädiert. Daraufhin wurde ihm sehr schnell ein oberlehrerhafter Ton unterstellt.
Wenn man weiß, wie Habermas schreibt, dann stimmt das nicht. Der ist nun mal Philosoph und war lange Zeit Professor für Philosophie. Philosoph*innen haben eine bestimmte Art des Ausdrucks. Das heißt, ich muss mir den Kontext anschauen und mich fragen: Wer redet, beziehungsweise wer schreibt denn da eigentlich? Das ist ein Philosophieprofessor, und der schreibt so, wie er immer schreibt. Dann ist das Oberlehrerhafte letztendlich ein Berufsstil.
Wenn man von den Medien weggeht und sich persönliche Konfliktgespräche anschaut – beispielsweise eine Diskussion mit dem Onkel, mit dem es in der Kommunikation immer Konfliktpotenzial gibt. Würde das 4-Ohren-Modell ein guter Ansatz sein, um das Gespräch zu entschärfen?
Ja, man kann sich zum Beispiel angewöhnen drauf zu achten, welche Beziehungshinweise man sendet. Bin ich prinzipiell an einer Verschärfung oder an einer Verständigung interessiert? Es ist wichtig, sich immer bewusst zu machen, dass die Art und Weise der Kommunikation auch Botschaften aussendet.
Muss das 4-Ohren-Modell von beiden Seiten angewendet werden, damit es funktioniert?
Das 4-Ohren-Modell wird in jedem Gespräch angewendet. Die Ebenen sind immer da, ob sie mir bewusst sind oder nicht. Ich sende immer etwas. Ich habe immer irgendeine Appellfunktion, was beim Gegenüber ankommen soll. Und in jedem Gespräch gibt es Beziehungshinweise: Also ist das jetzt verschärfter Dissens, bei dem mir egal ist, ob das Gegenüber beleidigt ist oder nicht. Auch wenn mir das nicht bewusst ist, sende ich solche Signale mit aus.
Wir wenden das Modell also immer automatisch unbewusst an?
Genau. In allen Sprachen, die wir sprechen, können wir das interpretieren, wenngleich wir es oft auch falsch interpretieren, weil es persönliche Stile gibt. Zum Beispiel gibt es Leute, die argumentieren schnell scharf. Und wenn man sie kennt, dann weiß man, dass man das nicht persönlich nehmen soll.
Die Beziehungshinweisebene verlangt Toleranz. Wenn mich irgendwer scharf angeht, muss ich nicht sofort erschrecken und denken, das kann ja überhaupt nichts mehr werden. Das kann auch ein persönlicher Stil sein und man könnte sagen: „Du hoppla, jetzt mal langsam, geht’s auch ein bisschen freundlicher?“ und dann können die Leute das oft auch.
Also Toleranz von beiden Seiten?
Toleranz im Verständnis, nicht zu schnell beleidigt sein und aber auch die Fähigkeit, explizit auf diese Ebene zu gehen. Da gibt es viele Möglichkeiten.
Welche Vorteile entstehen, wenn man in der Kommunikation das 4-Ohren-Modell bewusst anwendet?
Es kommt sicherlich nicht zu einem so schnellen Gesprächsabbruch, was im Internet unproblematischer ist als im Alltag. Im Alltag haben wir Beziehungen. Wenn ich zum Beispiel meine Nachbarin verärgere, dann müssen wir beide damit leben. Dann ist das auch nicht nur für die Nachbarin schlecht, sondern auch für mich, weil ich unsere Beziehung belaste. Ich muss ihr am nächsten Tag wieder begegnen.
Deshalb ist es besser, problematische Beziehungshinweise von vornherein zu unterlassen. Man kann sich auch entschuldigen, weil die Beziehung ja weitergehen soll. Entschuldigung ist der Beziehungshinweis par excellence. Und das ist das, was im Internet unterbleibt. Deshalb feinden sich die Leute dort unendlich an und bemühen sich wenig um die Differenzierung, wie etwa auf X, wo man die wildesten Texte in die Welt haut.
In Online-Medien sind nur wenige Leute persönlich identifizierbar und erlauben sich durch die Anonymität dann zum Beispiel Hassrede. Im Alltag wäre man schnell isoliert, wenn man das machen würde. Online geht das. Aber online wirkt auf offline zurück. Und dann haben wir eine Vergröberung der Sitten.
Was wünschen Sie sich dann in der aktuellen politischen Debatte beziehungsweise in der Gesprächskultur?
Viel mehr Differenzierung! Ich wünsche mir, dass nicht alles auf Pro und Contra gebürstet wird, sondern dass Zwischentöne zugelassen werden. Zum Beispiel ist das Gender-Thema wieder aktuell. In Bayern sagen die CSU und die Presse, dass die Gender-Sprache verboten wird. Das ist sowieso schon mal das falsche Vokabular. Was sie verbieten wollen, sind drei Sonderzeichen.
Also da ist schon die eigene Schilderung dessen, was man tut, letztendlich inadäquat. Bei diesem Thema muss man sich vor Augen halten, dass das Gendern ein riesiges Paket ist. Das beginnt bei Partizipien wie Studierende, geht über Doppelnennung und bis hin zu Neutralisierung, wie Lehrperson, statt Lehrer und Lehrerinnen.
Das ist auch bei vielen anderen Themen so wie etwa Gaza. Wenn ich mich mit Palästina solidarisiere, bin ich nicht automatisch antisemitisch. Es ist falsch zu sagen, wer sich für Gaza einsetzt, ist automatisch antisemitisch. Das verhindert eine produktive Beschäftigung mit dem Thema.
Das sind sogenannten „Trigger -Themen“, bei denen die Emotionen sofort hochkochen und sich beide Seiten nur als Gegensätze begegnen, was in der Realität aber nicht stimmt. Die Mehrheit der Menschen hat eine differenzierte Einstellung, die aber nicht abgebildet wird. Da sehe ich Handlungsbedarf sowohl im persönlichen Bereich als auch in Bezug auf Medien.
Es gibt das Buch „Die vierte Gewalt“ von Welzer und Precht. Die vierte Gewalt sind die Medien. Die beiden Autoren vertreten die Position, dass diese enormen Zuspitzungen in den neuen Medien sich schon lange auf die alten Medien ausgewirkt haben, und ich stimmte ihnen zu. Inzwischen kommen Zuspitzungen selbst im sogenannten Qualitätsjournalismus vor.
Zugespitztes wird gerne gelesen, Differenzierung klingt immer kompliziert. Das ist meiner Meinung nach ein Fehlschluss.