Sie sind emeritierter Professor für romanische Sprachwissenschaft der Universität Freiburg und haben sich in diesem Zusammenhang mit den europaweiten Unterschieden von vulgärer Sprache und Gesten befasst. Warum fluchen Menschen denn überhaupt?
Die Leute fluchen und schimpfen, weil es natürlich eine Art Befreiung und psychische Entlastung ist, die wir brauchen. Da gibt es eine schöne Formulierung von Sigmund Freud dazu, der einen kulturellen Fortschritt darin sieht, dass sich „die Tat zum Wort ermäßigt.“
Welche Unterschiede sind Ihnen im Bezug auf das Fluchen und die Gesten im europäischen Vergleich aufgefallen?
Im deutschen Sprachraum ist man sehr stark auf das Exkrementelle oder Fäkalische fixiert, ganz im Gegensatz zu dem sehr dominant sexuell fixierten Fluchen in den romanischen Sprachen, aber auch im Englischen und in den slawischen Sprachen. Die unserem Scheiße entsprechenden Wörter spielen zwar überall eine Rolle, aber eher eine sekundäre, während die Deutschen sich fast ausschließlich darauf beschränken.
Und woran, glauben Sie, liegt die Fixierung der Deutschen auf das Exkrementelle?
Das muss eine Fixierung sein, die bis ins frühe Mittelalter zurückreicht. Das zeigt sich im Französischen, das eine Sonderstellung unter den romanischen Sprachen einnimmt, da dort das Wort merde häufiger vorkommt, als die entsprechenden Wörter in den südromanischen Sprachen. Das hängt damit zusammen, dass Frankreich, das „Reich der Franken“, zum Teil von den Germanen beherrscht wurde, die bis zur Loire-Linie eingewandert sind und die dortige romanische Sprache stark verändert haben.
Inwiefern spielt dabei die Genderdebatte eine Rolle?
Mit unserem Hang zum Exkrementellen, können wir die Genderdebatte betreffend als eine Art Vorreiter betrachtet werden. Denn es ist natürlich schöner, wenn nicht die Frau im Rahmen von sexuellen Flüchen und Beschimpfungen abgewertet wird.
So nimmt auch das südwestdeutsche Wort Seckel in diesem Kontext eine Sonderrolle ein.
Warum nimmt Seckel eine ganz besondere Rolle ein?
Seckel ist im Schwäbischen eine ziemlich heftige Beleidigung, im Badischen ist sie, wie mir scheint, etwas milder und in der Schweiz wird die Beleidigung durch ein Tier verstärkt, weswegen man sich dort mit Schafseckel beschimpft. Tierbezeichnungen, Krankheiten oder religiöse Bezeichnungen, wie beispielsweise Porca Maria im Italienischen, sind im Bereich der vulgären Beschimpfungen sehr gefragt. Je stärker der Tabubruch beim Fluchen ist, desto stärker die Wirkung.
Der Ausdruck Seckel ist deshalb bemerkenswert, weil er das männliche Geschlechtsorgan meint, wie im Italienischen cazzo, der die jeweilige Aussage noch einmal verstärkt, wie in che cazzo vuoi für was verdammt nochmal willst du?
Im Gegensatz dazu ist im Französischen beispielsweise das Wort con ein gängiger Ausdruck, der auf das weibliche Geschlechtsorgan referiert. Im Russischen und im manchen südlichen Ländern geht man noch ein bisschen weiter, indem man die Mutter oder Schwester einer Person beleidigt. Denn dort ist man der Meinung, dass der Mann für die Frauen in der Familie verantwortlich ist und deshalb trifft man ihn am stärksten, wenn man nicht ihn sondern seine Mutter oder Schwester beleidigt.
Wir sind heute eine multikulturelle Gesellschaft, inwiefern wird dadurch auch die Art und Weise des Fluchens in Deutschland beeinflusst?
Mit Ausdrücken wie fuck, fucking, oder fick dich ins Knie, sind nun auch sexuell fixierte Ausdrücke in die Sprache der Jugend eingedrungen.
Der Mittelfinger nimmt im deutschen Sprachraum einen ganz besonderen Platz ein, warum?
Wir haben im Deutschen nicht so viele Gesten, wie beispielsweise die Südländer. Außer dem Mittelfinger zeigen wir in Deutschland noch den Vogel, der ja inzwischen sogar gerichtlich geahndet werden kann.
Beim Mittelfinger handelt es sich um eine eindeutig sexuelle Geste, indem sie ganz klar das erigierte männliche Glied abbildet. Die Deutschen haben den Mittelfinger, wobei es sich um eine ganz phänomenologische und neutrale Beschreibung handelt. Mit der Bezeichnung Stinkefinger wird der Mittelfinger wieder ganz klar ins Exkrementelle umfunktioniert. Das wundert andere Nationalitäten natürlich, denn diese Geste hat bei ihnen nichts mitExkrementellem zu tun.
Wie kommt man auf die Idee zu vulgären Gesten und Beschimpfungen zu forschen?
Ich bin da über mein Fach darauf gekommen. Den Anstoß gab mir das französische Verb baiser, das küssen bedeutet. Im vulgären Sprachgebrauch bezieht sich baiser auf den Geschlechtsakt, noch interessanter ist allerdings, dass das Wort auch dazu verwendet wird, um auszudrücken, dass man hereingelegt, also betrogen wurde. Wörtlich ins Deutsche übersetzt würde man sagen, dass man gevögelt wurde. Wir sagen da wieder – auf unserer Linie „beschissen“ oder „angeschmiert“.
Haben Sie denn schon mal jemandem den Mittelfinger gezeigt?
Nein, das habe ich bisher noch nicht gemacht und, seit ich mich näher mit seiner Bedeutung befasst habe, würde ich erst recht zögern. Auch fluche ich eher wenig. Philologische Gelehrte wenden sich häufig etwas zu, das ihnen gar nicht so vertraut ist …