Filmempfehlungen und Eindrücke vom Festival
Wohin will die Berlinale? Ein Rückblick auf das Festival und die Frage nach der Zukunft. In welche Richtung entwickelt sich die Berlinale, welche Filme braucht es? Außerdem unsere Top 9 Filmempfehlungen und ein Interview mit den uniCROSS Reporter*innen Valentina und Paul zu ihren Eindrücken.
Valentina und Paul im Interview über ihre Eindrücke von der Berlinale 2020
Valentina und Paul waren eine Woche lang bei den 70. Internationalen Filmfestspielen und haben zusammen etwa 40 Filme gesehen. Im Interview mit Felix berichten sie von ihren Eindrücken in Berlin.
Fazit und Vorschau auf die nächste Edition
Wohin Will die Berlinale? Ein Rückblick auf das Festival und die Frage nach der Zukunft. In welche Richtung entwickelt sich die Berlinale, und welche Filme braucht es? Mit Franz Rogowski und Melanie Waelde.
Top 9 Filmempfehlungen
Einige Tage sind ins Land gezogen seit der 70. Ausgabe der Berlinale. Wie jedes Jahr gab es viele Filme, die begeisterten und andere die zwar originelle Konzepte lieferten, aber nicht darüber hinweg überzeugen konnten. Nach dreißig Filmen aus allen Sektionen, haben wir unsere Empfehlungen hier zusammengetragen.
Exil
Visar Morinas „Exil“ ist ein satirisches Drama über die Verletzlichkeit einer integrierten Identität. Xhafer, ein Pharmaingenieur in einem deutschen Betrieb, sieht sich persönlichen Angriffen und Anfeindungen ausgesetzt. Schnell vermutet er Hass auf seinen Migrationshintergrund, während seine Frau ihn zu beschwichtigen versucht – mit wenig Erfolg. Durchdachte Dialoggefechte, sommerschweißgetränkte Hemden und eine sich immer weiter zuspitzende Spannung. Eine komplette Kritik gibt es hier:
First Cow
Im Zentrum von „First Cow“ steht nicht die titelgebende Kuh, die erste ihrer Art, die in einem kleinen amerikanischen Siedlerdorf Oregons das neu erkundete Land abgrast. Es geht um die unwahrscheinliche Freundschaft zweier Männer, die sich mit vielen Hoffnungen von ihrer Heimat getrennt haben. King-Lu, ein chinesischer Geschäftsmann, prahlt von seiner Heimat, seinen Reisen und dem Internationalen Handel. Der wortkarge Cookie denkt oft zurück an seinen Heimatstaat. Er würde gerne wieder so backen, wie er es dort gelernt hat, doch dafür fehlen die Zutaten. Allem voran die Milch. Bald zapfen die beiden jeden Abend heimlich einen Eimer von der ersten Kuh, um daraus Donuts zu backen und lukrativ zu verkaufen. Das Risiko ist hoch, die Kuh gehört nämlich dem Anführer der Siedlung. Kelly Reichardt inszeniert mit „First Cow“ eine wohlige Feel Good-Geschichte, die viel Tiefe und Reflektion über die Figuren, ihre Träume und den Frühkapitalismus während der Frontier_Bewegung aufweist. Unterlegt mit wunderbarer Musik endet die Mark Twain-artige Erzählung in einem perfekt gesetzten und rührenden Abschluss.
Never Rarely Sometimes Always
In „Never Rarely Sometimes Always“ gibt uns Regisseurin Eliza Hittman einen kurzen Einblick in das Leben von Autumn. Einer 17-jährigen Schülerin aus Pennsylvania, die unerwartet schwanger wird und beschließt eine Abtreibung vorzunehmen. Dafür reist sie mit ihrer Cousine Skylar ins benachbarte New York, wo Schwangerschaftsabbrüche für Minderjährige erlaubt sind. Die Stärke des Films liegt darin, dass er keine besondere Geschichte erzählt. Dafür geben die wenigen Tage innerhalb derer die Handlung stattfindet, ein verständliches Bild des Kleinstadtlebens, der alltäglichen Übergriffe und des psychischen Drucks, dem die jungen Frauen ausgesetzt sind. Man kann sich nur vorstellen, wie viele Zuschauerinnen im Kinosaal an Momente in ihrem Leben erinnert wurden. Mit einfühlsamen – teilweise schwer zu ertragenden – Bildern und tief persönlichen Darstellungen überzeugt der Film auf ganzer Linie und wurde zurecht mit Standing Ovations und dem großen Preis der Jury belohnt.
Cidade Passáro (Shine Your Eyes)
„Cidade Passáro“ bedient sich klassischer Film Noir-Strukturen und setzt diese ins urbane São Paulo. Zwischen multinationalen Vierteln, verschränkten Betonarchitekturen und dem treibenden Alltagsrhythmus, sucht Amadi, ein Musiker aus Nigeria, nach seinem älteren Bruder. Der hat ohne viele Hinweise den Kontakt zur Familie abgebrochen. Daraus ergeben sich absurde Begegnungen, die den Protagonisten vermehrt mit seiner Identität und der eigentlichen Suche nach seinem Ziel im Leben konfrontieren. Die Geschichte wiederzugeben oder zu erklären, wird der Komplexität ihrer Struktur und Motive nicht gerecht. Immer wieder springt das Narrativ zwischen der Bedeutung von Zufall und der Willkür von Schicksal. Vor allem auf visueller Ebene funktioniert „Cidade Passaro“ besonders effektiv. Die 4:3 Kompositionen nutzen die vorherrschende Geometrie der Stadt, Amadi verschwindet in ihr. Ein gelungener und höchst origineller Einblick in die Emanzipierung des Protagonisten.
Rizi (Days)
Der erste Kommentar zu Tsai Ming-Liangs neuem Film „Rizi“ erwartet mich direkt, als ich den Kinosaal verlasse. Ein älterer Mann, der in der Toilette ansteht, meint: „Das war aber anstrengend, oder?“. Zum Glück spricht er nicht mit mir, denn ich bin anderer Meinung.
„Rizi“ besteht aus wenigen wunderschönen Bildern. Die meisten davon sind unbewegt und stehen mehrere Minuten da, so dass wir jedes kleine Detail in ihnen mustern können. Die minimalistische Geschichte einer kurzen Begegnung zwischen zwei Männern, offenbart viel über ihren Alltag geplagt von Krankheit, Routine und Melancholie. Sie lädt ein, jeden Moment zu genießen, Rhythmus zu finden in den gleichmäßigen Bewegungen der Protagonisten. Besonders heraus sticht eine etwa zwanzigminütige Massage, die sich zu einer romantischen Annäherung entwickelt. Das ist so sinnlich und versetzt uns nicht nur emotional, sondern tatsächlich auch physisch in den Körper der Hauptfigur. Der taiwanesische Regisseur verzichtet auf Dialoge, und die wenigen Worte werden bewusst nicht untertitelt. Klar im Zentrum steht das körperliche Erlebnis, das uns in das Gefühl der Geschichte versetzt. Das ist nicht anstrengend, es ist eher entspannend, nimmt die Wahrnehmung von Zeit und den Druck, jedes Bild schnell verstehen zu müssen.
Yalda, a Night for Forgiveness
Eine groteske Gameshow, in der zum Tode Verurteilte ihren Anklägern eine Vergebung abringen müssen, ist das Setting für „Yalda, a Night for Forgiveness“. Irgendwo zwischen den Abermillionen Lichtern Teherans wartet Maryam auf Mona, die Tochter ihres Mannes, den sie getötet hat. Ob mit Absicht und wie genau es dazu kam, bleibt ungeklärt. Maryam ist gerade volljährig und hatte nach dem Mord auch noch eine Fehlgeburt. Sie ist nach über einem Jahr Gefängnis psychisch stark geschädigt, wippt dauernd nervös und kann ihre Gefühle nicht in Zaum halten. Mona wiederrum erscheint ruhig und beherrscht. Der Film stellt viele moralische Fragen, wie auch der schmierig quotenbewusste Moderator in der Show. Allerdings hält der Regisseur sich zurück ein Urteil zu fällen, weder über die Umstände, die zu dem Verbrechen führten, noch über die beiden Menschen mit sehr unterschiedlichen sozialen Stellungen und Hintergründen. „Yalda“ entfaltet sich daher als ein Prozess, in dem beide Frauen zu Opfern werden. Das Hintergrundtreiben im Showbetrieb erinnert uns ständig an die künstliche Dramatik. Neben der moralisch-gesellschaftlichen Frage setzt sich „Yalda“ vor allem mit den verschieden weiblichen Rollenbildern in der Gesellschaft auseinander: Mutter, Tochter und Frau. Dabei verschwimmen die Grenzen, wirken obsolet und haben doch so viel Macht über die Figuren. Ein intensives Konzept, das mit vielen Entwicklungen aufwartet und wichtige Fragen zu Klasse, Rollen und Moral provoziert.
Bloody Nose, Empty Pockets
Es ist die letzte Nacht, in der das „Roaring 20s“, eine urige Kneipe in Las Vegas, geöffnet ist. „Bloody Nose, Empty Pockets“ dokumentiert diesen Abend gekonnt experimentell. Bereits mittags stehen die ersten Stammgäste auf der Matte. Es sind verschrobene, liebenswürdige Gestalten, sie alle verbindet die Bar. Man erzählt Witze, trinkt viel und kennt die Probleme der anderen. Zwischen Bierweisheiten findet man Einblicke in die bewegenden Geschichten der Leute. Der Film ist unterteilt in Segmente, manchmal betitelt durch Aussagen der Protagonist*innen, mal Songnamen oder Filmzitate. Genau wie in der Bar überall Plakate hängen und Fernseher installiert sind, arbeitet das Regisseur-Brüdergespann Turner Ross & Bill Ross, populäre Kultur verschiedener Generationen ein. Die Bar wird zu einer Zeitkapsel, in der die Protagonist*innen in Erinnerungen wühlen, in dem Folkklassiker und Gangstarap auf der rostigen Jukebox laufen und laute Beschimpfungen gegen den Staat, Millenials und Boomer am Ende versöhnlich im Shotglas versickern. Ein extrem amüsantes und berührendes Portrait einer Nacht, die enden muss.
Irradiés (Irradiated)
„Irradiés“ ist ein Zusammenschnitt von Kriegen und menschlichem Leid über die letzten hundert Jahre. Der kambodianische Regisseur Rithy Panh vermischt Archivaufnahmen, die in ihrer Brutalität unbegreifbar sind. Er unterscheidet die Bilder nicht nach ihrem historischem oder geographischem Hintergrund. Leichenberge in Konzentrationslagern sind direkt montiert neben Strahlungsopfern in Hiroshima, visuell aufbereitet als Triptychon. Dadurch verliert man schnell die Übersicht über die einzelnen Ereignisse. Es entwickelt sich ein einziger Sog, der das Publikum und jede Vorstellung von Moral nach und nach zermürbt. Der darüberliegende Dialog zeigt das einfache Ziel des Regisseurs. „Sieh einhundert mal hin. Du musst es wiederholen, denn das Böse sitzt tief.“ Anstatt nach einer Weile abzustumpfen, wecken die Bilder auf, alarmieren und setzten ein klares Plädoyer gegen die Unmenschlichkeit und die Abstraktion von Gewalt. Gerade in Zeiten, in denen uns jeden Tag Bilder von den europäischen Grenzen erreichen, von gekenterten Schiffen auf dem Mittelmeer und anderen Orten auf der Welt, hilft „Irradiés“ den Blick zu sensibilisieren.
Victoria
California City ist eine gigantische Planstadt mitten in der kalifornischen Wüste. Sie wurde gebaut, um Los Angeles Konkurrenz zu machen, doch heute lebt dort quasi niemand. Nur ein paar Menschen treffen wir hier. Einer davon ist Lashay T. Warren, ein junger Vater, der morgens mit anderen jungen Menschen in die Schule geht und anschließend scheinbar sinnlose Aufgaben verrichtet. Er kehrt die sandigen Straßen, die niemand mehr benutzt, oder fischt verhakte Plastiktüten aus dem trockenem Gestrüpp. In der Wüste ist es sehr leise, es ist ein Niemandsland. Irgendwo zwischen Becketts absurdem Theater und der Alltagspoesie eines hoffnungsvollen Millennials schlägt Lashay die Zeit tot. Er guckt Straßen auf Google Maps an, gibt Felsen Namen und geht spazieren. Der Film versetzt uns gekonnt in seinen Kopf, wir hören Tagebucheinträge, sehen Videos, die er Freunden geschickt hat und begleiten seinen repetitiven Alltag. Eine intimer Einblick in das Leben eines jungen Mannes, der zwischen Schule, Familienleben, Beruf und dem American Dream steckt. „Victoria“ ist kurzweilig und unterhaltsam, schafft in den 70 Minuten aber auch eine extreme Nähe zu seinem Protagonisten. Ein Portrait einer Stadt, die keine ist, im Limbus der amerikanischen Gesellschaft.
► Alle Beiträge zur Themenwoche Berlinale 2020
Bericht und Empfehlungen: Paul Stümke
Interview: Felix Kainzbauer