Freiheit für Assange, Freiheit für die Presse?
Julian Assange ist frei. Nach 1901 Tagen Gefängnishaft und stets drohender Auslieferung an die USA hat der Gründer der Enthüllungsplattform WikiLeaks durch einen Deal mit der US-Justiz seine Freiheit zurückerlangt. Was das international für den Journalismus bedeutet, hat Nils bei Reporter ohne Grenzen nachgefragt.
„Stellt euch das vor: Über fünf Jahre in einer kleinen Zelle in einem Hochsicherheitsgefängnis. Beinahe 14 Jahre Haft im Vereinigten Königreich. Und jetzt das“, postet WikiLeaks am 25. Juni zusammen mit einem Video auf X (ehemals Twitter).
Zu sehen ist Julian Assange, wie er sich auf einem weißen Kissen ausstreckt und aus dem Kabinenfenster eines Flugzeugs in die Ferne schaut. Die Sonne scheint ihm ins Gesicht. Im Himmel zeichnet sich die Silhouette des Mondes ab.
Unbemerkt von der Öffentlichkeit ist der WikiLeaks-Chef aus dem Londoner Gefängnis Belmarsh am Morgen des 24. Juni 2024 entlassen worden. Vom Flughafen Stansted ist er im Anschluss mit einem privaten Flieger auf die Marianeninsel Saipan gereist, ein US-Außengebiet, das nördlich von Australien liegt. Der Einreise auf das US-amerikanische Festland hatte sich Assange verweigert.
Auf Saipan hat er seine Abmachung mit dem US-Justizministerium erfüllt. Er hat sich vor einem US-amerikanischen Gericht den Vorwürfen der Spionage und des Geheimnisverrats schuldig bekannt und wurde daraufhin von der Richterin Ramona Manglona zu fünf Jahren Haft verurteilt.
Dies entspricht der Zeit, die er im Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh seit April 2019 inhaftiert war. Damit galt seine Strafe als bereits abgesessen. Nach seinem Schuldbekenntnis durfte er noch am 26. Juni 2024 den Flieger zurück zu seiner Familie nach Australien nehmen.
Wäre Julian Assange ohne den Deal mit der US-Justiz verurteilt worden, hätten ihm wegen dem Spionagevorwurf bis zu 175 Jahre Haft gedroht. Seit 2019 hatte ihn die USA juristisch verfolgt und von Großbritannien seine Auslieferung gefordert, weil er vor beinahe 15 Jahren Geheimmaterial auf der von ihm gegründeten Enthüllungsplattform WikiLeaks veröffentlicht hatte. Die US-Nachrichtendienstanalytikerin Chelsea Mannings hatte Armeedokumente von Militärrechnern heruntergeladen, auf CDs gebrannt und Julian Assange zugespielt.
Es geht darin um mutmaßliche Vergehen des US-Militärs im Irak und in Afghanistan. Ein Video zeigt einen US-Hubschrauberangriff, bei dem Zivilisten in Bagdad getötet wurden. Die USA warfen dem Whistleblower vor, durch seine Enthüllungen Menschen gefährdet zu haben, die namentlich in den Dokumenten auftauchen.
Assange wurde als erste Person in den Vereinigten Staaten wegen der Veröffentlichung von Geheiminformationen angeklagt. Bis dahin gehörte es zur routinemäßigen Praxis von Zeitungen, Regierungsgeheimnisse zu veröffentlichen, die ihnen zugespielt wurden.
Er hat weltweit Unterstützer, die in ihm einen Enthüllungsjournalisten sehen, der mutmaßliche Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen offengelegt hat. Auch Reporter Ohne Grenzen haben sich jahrelang für seine Freilassung eingesetzt.
Nils hat mit Katharina Viktoria Weiß, Pressereferentin bei Reporter ohne Grenzen, über seine Freilassung und die Bedeutung für die Presse gesprochen.
Hallo Frau Weiß, wie haben Sie bei Reporter ohne Grenzen reagiert, als Sie von Julian Assanges Freilassung erfahren haben?
Wir haben schon seit einigen Wochen gezittert, denn es zeichnete sich schon etwas ab, dass die Administration von Biden erwägt, dem juristischen Tauziehen um die Freiheit von Julian Assange ein Ende zu bereiten.
Wir haben gestern natürlich gefeiert. Reporter ohne Grenzen hat sich seit Jahren für den Fall Assange eingesetzt. Seine Freiheit bedeutet uns viel. Wir waren die einzige NGO, die bei jeder Anhörung dabei sein durfte und ihn sogar mehrmals im Gefängnis besuchen konnte. Dementsprechend sind bei einigen Mitarbeiter*innen auch die persönlichen Beziehungen zu diesem Fall ganz besonders.
Können Sie einschätzen, welche Bedeutung seine Freilassung für die Pressefreiheit auf internationaler Ebene hat?
Das ist ein zweischneidiges Schwert. Auch wenn wir über die Entwicklungen im Fall Assange erleichtert sind, trüben die Zugeständnisse die Sicherheit von investigativen Journalist*innen und Whistleblowern.
Assange hat sich vor dem US-Gericht am 26. Juni 2024 der Verschwörung zur unrechtmäßigen Beschaffung und Verbreitung von geheimen Unterlagen schuldig bekannt. Damit wird das sehr kontroverse, gefährliche Spionagegesetz aus dem Jahr 2017 weiterhin über den Köpfen von Medienschaffenden schweben, die über umstrittene Machenschaften von mächtigen Staaten berichten und diese offenlegen.
Geheimmaterial zu veröffentlichen, das Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen dokumentiert, gehört aber zu den Grundpfeilern des investigativen Journalismus.
Dennoch zeigt der Fall Assange auch, dass es sich gelohnt hat, im Namen der Pressefreiheit jahrelang für ihn zu kämpfen und über seinen Fall aufzuklären. Denn in vielen anderen Teilen der Welten gibt es investigative Reporter*innen und Whistleblower, die das Gefängnis bis zum Ende ihres Lebens nicht mehr verlassen werden. Auch weil ihrem Schicksal weniger dauerhafte öffentliche Aufmerksamkeit zuteil wird.
Hat Assanges Fall also neu definiert, wo die Grenzen für investigative Reporter*innen in Zukunft liegen werden, vor allem bei Enthüllungen zu Fragen nationaler Sicherheit?
Auf jeden Fall. Berichterstattende, die “sehr hohe Ziele” anvisieren und über Fragen nationaler Sicherheit berichten und dabei vertrauliche und geheime Dokumente zurate ziehen, werden sich wahrscheinlich in den nächsten Jahren zweimal überlegen, mit welchen persönlichen Gefahren das verbunden ist.
Wenn man die Zeit Julian Assanges in der ecuadorianischen Botschaft mitrechnet, hat er zwölf Jahre seines Lebens verloren. Das können wir aus der rein pressefreiheitlichen Perspektive bei Reporter ohne Grenzen nicht hinnehmen. Das ist ein frappierender Präzedenzfall für investigative Journalist*innen.
Stella Assange sagt im Dokumentarfilm Ithaka, die USA hätten bereits „gewonnen“, denn das Schicksal ihres Ehemanns habe bereits Journalist*innen eingeschüchtert, die ähnliche Enthüllungen anstellen könnten. Ging es den USA darum, ein Beispiel der Abschreckung zu schaffen und Assange zu entkräften?
Es ist bis zu einem gewissen Grad sicher eine Taktik, jemanden wie Julian Assange auf diese Art zu zermürben. Assange ist sehr erleichtert, jetzt mit seiner Frau und den Kindern in Australien wiedervereint zu sein.
Die Freilassung wird ihm neuen Lebensmut schenken. Das wird sich auch auf die gesundheitliche Verfassung des WikiLeaks-Gründers auswirken. Jedoch haben die fünf Jahre im Hochsicherheitsgefängnis schwere gesundheitliche Spuren hinterlassen.
Aber inwiefern das von den USA beabsichtigt war, können wir von Reporter ohne Grenzen nicht ohne Spekulation behaupten.
Le Monde diplomatique schreibt, dass vielleicht auch der kürzliche Prozessauftakt gegen den Wall Street Journal Reporter Evan Gershkovich in Russland eine Rolle bei der Freilassung Assanges gespielt haben könnte. Der Kreml wirft Gershkovich ebenfalls Spionage vor. Die USA aber verurteilen dies, ein Widerspruch.
Es ist schon ein Zufall der Geschichte, dass so kurz vor dem Beginn des Prozesses gegen Evan Gershkovich wegen Spionagevorwürfen Julian Assange freigelassen wird. Allerdings läuft der Fall Assange schon seit fünf Jahren und Joe Biden ist auch schon länger Präsident.
Dass er erst jetzt wieder in Freiheit ist, mutet ein bisschen eigenartig an. Aus der Sicht von Reporter ohne Grenzen hätte die juristische Verfolgung von Julian Assange schon vor zwölf Jahren enden müssen.
Der stellvertretende US-Generalstaatsanwalt John Demers sagte 2019, Julian Assange sei kein Journalist. Die Begründung: Er habe sich verantwortungslos verhalten, denn seine geleakten Dokumente hätten Menschen in Gefahr gebracht, die namentlich darin auftauchen. Wie steht Reporter ohne Grenzen zur Aussage, Julian Assange sei kein Journalist?
Das ist eine Frage des Ringens. Wir haben ihn lange Zeit eher als Herausgeber bezeichnet. Er ist aber in jedem Fall Medienschaffender. Auch weil er für den investigativen Journalismus hochbrisante und wichtige Quellen bereitgestellt hat.
Das gehört deswegen zum Mandat von Reporter ohne Grenzen. Im Gegensatz zu Amnesty International und anderen Menschenrechtsorganisationen waren wir ja von Anfang an davon überzeugt, dass die USA die politisch motivierte Verfolgung von Assange einstellen müssen, um die Medienfreiheit weltweit nicht weiter zu gefährden.
Der Guardian berichtet, dass es bei der CIA 2017 Überlegungen gegeben habe, Julian Assange verschwinden zu lassen, durch eine Entführung oder sogar durch Mord. Wie sicher kann sich Julian Assange jetzt in Australien fühlen?
Das hängt auch davon ab, ob Donald Trump dieses Jahr gewählt wird. Die US-Regierung hat sicherlich ein Interesse daran, Assange und die mit ihm verbundenen Enthüllungen jetzt nach zwölf Jahren endlich ruhen zu lassen.
Er hat ohnehin schon einen gewissen Märtyrerstatus inne, den sie sicher nicht erhöhen möchten. Wir sind zuversichtlich, dass er jetzt erstmal seine Freiheit genießen und seine Genesungsprozesse angehen kann.
Info
Reporters sans frontières, Reporter ohne Grenzen, ist eine internationale Nichtregierungsorganisation, die Verstöße gegen die Pressefreiheit dokumentiert und die Öffentlichkeit darüber aufklärt, wenn Journalist*innen in Gefahr sind.
Ihr Hauptsitz befindet sich in Paris, die deutsche Sektion Reporter ohne Grenzen in Berlin. Sie engagiert sich für den Schutz von Medienschaffenden, unterstützt verfolgte Journalist*innen und ihre Familien, ersetzt zerstörte Ausrüstung, übernimmt Anwaltskosten oder ermöglicht medizinische Behandlungen nach Misshandlungen und Anschlägen. Die Organisation hat ein weltweites Netz mit mehr als 150 Korrespondent*innen.