Frau Mangelsdorf, Sie sind Geschäftsführerin der Gender Studies an der Uni Freiburg. Womit beschäftigen sich die Gender Studies konkret?
Die Gender Studies beschäftigen sich mit dem Verhältnis der Geschlechter zueinander. Es geht also nicht um eins der Geschlechter, sondern um das Dazwischen verschiedener Geschlechter und darum, ob wir diese immer nur in zwei oder auch in mehrere Kategorien einteilen können. Das heißt auch, dass das Fach interdisziplinär zu denken ist. Die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften sind genauso daran beteiligt, wie die Natur- und Technikwissenschaften.
Die Gender Studies sind auf der einen Seite eine Wissenschaft, auf der anderen Seite ist die Forschungsrichtung aber historisch ebenfalls aus einer politischen Bewegung hervorgegangen und hat schon auch das Ziel, zu analysieren, wie Gesellschaften sich verändern können und was sich anders denken lässt.
Der Fachbereich ist ursprünglich aus politisch-feministischen Intentionen heraus entstanden. Inwiefern ist das aber problematisch, wenn ein Fachbereich mit einem politischen Programm, also eventuell weniger wissenschaftlich-neutral, arbeitet?
Der Fachbereich ist aus einer politischen Bewegung heraus entstanden und die Idee der Gender Studies ist natürlich aus der Frauen- und auch der Menschenrechtsbewegung entstanden. Diese Bewegung wurde schließlich aber mit viel Vorlauf in die Universitäten hineingetragen und hat sich dort als Wissenschaft etabliert. Sie ist erst einmal sehr stark geistes- und sozialwissenschaftlich geprägt und das auch mit allen Methoden der Geistes- und Sozialwissenschaften, die dem wissenschaftlichen Standard Rechnung tragen.
Gleichzeitig wird auch die Norm stets befragt und es werden ethische Fragen gestellt. Das ist im Grunde genauso wie in den Umweltwissenschaften. Die Gender Studies sind mittlerweile einfach eine Disziplin, die sich ein bisschen quer zu allen anderen Disziplinen versteht, weil sie überall hineingehört, aber letztendlich unterscheidet sie sich nicht von anderen Wissenschaften.
Wo verläuft die Trennlinie zwischen feministischer Bewegung und Gender Studies?
Es gibt Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die sagen, schon wie ich schreibe und dass ich interdisziplinär arbeite, das heißt quer zu bestimmten Fächervorstellungen, sei allein schon ein politischer Akt innerhalb der universitären Landschaft. Dann gibt es wieder welche, die sagen, wir müssen Theorie und Praxis stärker aufeinander beziehen, sowohl auf einer pädagogischen, als auch auf einer aktivistischen Ebene. Und dann gibt es auch wieder welche, die sagen, ich bin Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler und arbeite somit losgelöst von politischem Aktivismus. Also da sind sehr unterschiedliche Meinungen und Positionen vertreten, wie es das ja überall in den Wissenschaften gibt.
Auch in anderen Fachbereichen, die den Anspruch haben, nicht nur zu analysieren, sondern auch den Status quo zu hinterfragen, ist das so. Das ist im Grunde der Bildungsauftrag, der auch in der Wissenschaft steckt.
Stellen die Gender Studies das ,biologische Geschlecht‘ infrage?
Die Biologie selber stellt sich in Frage. Die Biologie ist so divers. Egal, ob wir in die Natur als Ganzes oder auf die Menschen gucken. Nicht wir konstruieren die Diversität, sondern die Diversität ist da. Wir schauen sie uns nur an und verschleiern dabei nicht den Blick darauf, dass es sie gibt.
Es gibt einen wunderbaren Dokumentarfilm, der heißt „Eindeutig-Zweideutig“. Eine Person, die mit keinen eindeutigen Geschlechtsmerkmalen auf die Welt gekommen ist, hat von ihrer Mutter die Vorstellung, dass alles was auf der Erde ist, doch zwangsläufig von Gott gewollt sein muss und demnach auch eine Existenzberechtigung haben sollte. Sie sagt, ich bin doch so geboren, also bin ich von Gott so geboren. Sie verdeutlicht das mit einer religiösen Metapher, aber das macht den Aspekt meiner Meinung nach ganz wunderbar deutlich: Die Vielfalt ist einfach da, sie existiert in der Natur und auf der Erde.
Geht es um eine Dekonstruktion oder um die Diskussion des ,herkömmlichen Geschlechterbegriffs‘?
Konstruktion ist sehr mechanisch gedacht. Wir sind ja in allererster Linie nicht diejenigen, die das dekonstruieren, sondern wir zeigen, wir analysieren das, was wir sehen. Da sind wir auch sehr beschreibend und arbeiten deshalb inzwischen ebenfalls mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Biologie, der Kognitionswissenschaften und der Ingenieurswissenschaften zusammen.
Es geht nicht darum, grundsätzlich irgendetwas zu zerschlagen. Es geht im Grunde, wenn wir bei dem Bild der Konstruktion bleiben, darum aufzuzeigen, wie eigentlich dieses Haus in dem wir uns gesellschaftlich bewegen, aufgebaut ist und warum es anscheinend auf zwei Säulen ruht: nämlich Mann und Frau. Muss das so sein und ist das überhaupt logisch nachzuvollziehen?
Warum brauchen wir die Gender Studies?
Weil ich sagen würde, dass das Thema sehr stark an die Fundamente unserer Gesellschaft geht. Es geht um Strukturen, die für uns völlig selbstverständlich geworden sind. Wenn wir die Frage stellen, warum sind uns Geschlechtervorstellungen eigentlich so selbstverständlich und was hat das mit der Art und Weise wie wir sprechen, wie wir uns kleiden, wie wir unsere Familien aufbauen zu tun, macht das einigen Menschen Angst. Im Moment sind sowieso viele unsicher durch Digitalisierungs- und Arbeitsprozesse, durch die sich unsere Gesellschaft tiefgreifend verändert. Es ist logisch, dass sich manche dagegen auflehnen, weil sie gesicherte Verhältnisse haben möchten.
Aber es sind nicht wir von den Gender Studies, die die Verhältnisse infrage stellen, sondern wir beobachten nur die Tatsachen und stellen gleichzeitig die Frage, wie wir mit diesen Veränderungsprozessen umgehen wollen.
In Ungarn wurde der Fachbereich verboten, mit der Begründung, es gebe keine Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt für Menschen mit diesem Abschluss.
Wenn es um die Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt ginge, dürfte es viele Fachbereiche nicht mehr geben. Das ist ein vorgeschobenes Argument. An dieser Stelle wird ganz deutlich, dass über die Gender Studies Politik gemacht wird und auch hier würde ich betonen, nicht die Gender Studies machen Politik, sondern die Geschlechterverhältnisse sind politisch zu verstehen. Also zum Beispiel zu sagen, die Frauen gehören in die Familie und in die Versorgung des Haushalts und die Männer gehören an den Arbeitsplatz und in die Politik, das ist ein politisches, ein ideologisches Statement. In den Gender Studies weisen wir auf solche Aussagen erst einmal nur hin. Ich würde immer wieder die Diskussion umdrehen und sagen, das was wir tun, ist im Grunde aufzuzeigen, was zu beobachten ist.
Gerade die Religion war dabei sehr stark daran beteiligt, diese Zweigeschlechtlichkeit zu untermauern. In dem Moment, in dem ich kritisch hinterfrage, ob das ein Fundament ist, das für unsere Gesellschaft im 21. Jahrhundert noch tragbar ist, rüttele ich auch an den Grundfesten religiöser Vorstellungen.
Welche Auswirkungen hat die Wissenschaft Gender Studies auf unseren Alltag?
Nina Degele hier aus der Soziologie, die die empirische Geschlechterforschung voranbringt, hat ein sehr schönes Wort kreiert, nämlich Entselbstverständlichung. Am Anfang habe ich davon gesprochen, dass es uns so selbstverständlich ist, wie die Welt geordnet ist. Wenn ich mir darüber klar werde, dass das gar nicht so selbstverständlich ist, kann ich mir immer wieder die Frage stellen: Möchte ich eigentlich in diese Formen reinpassen oder gibt es nicht auch Möglichkeiten, die Form wie ich leben und denken möchte auch anders auszuhandeln? Sei es im Familienleben oder Partnerschaften oder aber auch in der Arbeitswelt.
Man merkt zunehmend, wir sind eigentlich blind dafür, was diese ganzen Konstruktionen mit uns machen und so wird man sensibel für die Auswirkungen dessen und für nötige Veränderungen.
In der Gesellschaft scheint diese Reflexion über bestehende Konstruktionen allerdings noch nicht so richtig angekommen zu sein. So sind Puppen in der Werbung immer noch nur für Mädchen und der Lego-Baukasten nur für Jungs.
Ja, das ist manchmal unerträglich. In den Gender Studies werden solche Prozesse der Stereotypisierung hinterfragt und die Effekte, die Stereotype erzielen. Es ist aber so, dass die meisten Menschen heutzutage mit diesen Effekten nicht mehr zufrieden sind, auch wenn das in der Werbung anscheinend immer noch einen guten Markt darstellt.
Aber es gibt auch ganz lustige konterkarierende Beispiele. So wurde einmal eine rosa-pinke Computer-Reihe entworfen, aber die eigentliche Zielgruppe Frauen haben diesen Computer nicht gekauft, sondern die Reihe war total beliebt in der Queer-Community.