Hat der Kapitalismus die Liebe zerstört?
„Vertrau uns, je mehr Optionen du hast, desto besser werden deine Aussichten.“ Mit diesem Versprechen wirbt eine bekannte Dating Plattform dafür, auch im Zweifel doch mal öfter nach rechts zu swipen, um endlich das versprochene perfekte Match zu finden.
Aber hilft uns diese grenzenlose Auswahl wirklich dabei die große Liebe zu finden oder hindert sie uns nicht viel mehr daran überhaupt eine Wahl zu treffen? Jenny von uniFM hat sich über die (Un-)Möglichkeit der Liebe im Kapitalismus ein paar Gedanken gemacht.
Liebe und Konsum
Dating Apps versprechen uns echte Verbindungen und die wahre Liebe zu finden. Aber ist dieses Versprechen unter den kapitalistischen Bedingungen erfüllbar, wenn jedes Handeln auf Konsum und Effizienz gerichtet ist? Und was macht die neoliberale Doktrin uneingeschränkter Wahlfreiheit und grenzenloser Möglichkeiten mit unserer Fähigkeit uns zu entscheiden?
Die französisch-israelische Soziologin Eva Illouz versucht seit 20 Jahren mit ihrer Forschung Antworten auf diese Fragen zu finden. Schon lange bevor Dating Apps zur menschlichen Grundausstattung gehörten, erkannte sie die Verschränkungen von Konsum und romantischer Liebe. Im emotionalen Kapitalismus ist die Romantik zu einer konsumierbaren Ware geworden und Waren emotional aufgeladen und romantisiert.
In Werbespots fällt das Wort Liebe schon beinahe inflationär, manchmal auch ziemlich out of context. „Folge deinem Herzen“ heißt es in einer Werbung für Zeug, das man auf den Grill klatscht. Und eine Spinne verliebt sich aus weiter Ferne in ein Handy, dem sie schlussendlich nah sein kann, als ihr Besitzer es kauft. Über den Konsum von Waren werden uns Gefühle gleich mit dazu verkauft. Gleichzeitig werden unsere eigenen Gefühle mit dem Konsum verknüpft. Das Glück scheint nur einen Kauf weit entfernt zu liegen oder eben einen Swipe.
Auch wenn wir bei Dating Apps nicht direkt etwas kaufen, Konsum und Liebe sind hier eng miteinander verknüpft. Wer sich schonmal auf Tinder, Bumble und Co. bewegt hat, wird die Kaufhausmentalitität kennen, in die man schneller hineingezogen wird als man Match sagen kann. Wir swipen endlos nach links und rechts als würden wir durch einen Katalog blättern. Wir filtern nach genausten Kriterien und treffen bei jedem neuen Gesicht, dass auf unserem Bildschirm erscheint in Sekundenschnelle eine neue Entscheidung.
Die Qual der Auswahl
Auf den Dating-Apps begegnen sich Menschen unterschiedlichster Couleur auf einem freien ungeregelten Markt. Freiheit geht bekanntlich aber nicht unbedingt mit Gleichheit einher. Wie auf jedem Markt verkaufen sich manche Produkte eben besser als andere. Eva Illouz zufolge ist das maßgebliche Kriterium der Wahl auf Dating Plattformen die sexuelle Attraktivität und die wird primär durch Bilder vermittelt. Funktioniert die gute alte Liebe auf den ersten Blick jetzt nur noch durch ein Spiegel-Selfie?
Je nachdem was wir suchen, gelten noch andere Kriterien. Auch Charakter muss man haben und auch der wird so gut wie möglich präsentiert. Es ist schon paradox: Wir wollen uns selbst gut verkaufen, gleichzeitig authentisch sein, aber uns auch nur von unserer besten Seite zeigen. Wenn es dann zum Kennenlernen kommt, ähnelt es schon fast einem Bewerbungsgespräch. Man will von sich überzeugen. Das Glück, die große Liebe zu finden muss man sich eben hart erarbeiten. Aber keine Sorge, auch du kannst es schaffen, wenn du nur genug dafür tust und dich optimierst. Möglichkeiten gibt es von Schönheits-Docs bis Personality-Coaches ja genug.
Auf dem Dating-Markt begegnet uns ein grenzenloses Angebot an Möglichkeiten. Um uns dort zurechtzufinden und überhaupt aus dem Überangebot wählen zu können, müssen wir aber zuerst herausfinden, wer wir eigentlich selbst sind und dann auch noch was genau wir eigentlich wollen. Kleinste Unstimmigkeiten mit unseren Vorstellungen lassen den Deal sofort wieder platzen. Wir wollen jemanden, der unsere Leidenschaft zum Reisen oder Skaten teilt, aber bitte niemanden, der Oliven oder Ananas auf Pizza mag, absolute Red-Flag. Unser Geschmack hat sich verfeinert und definiert sich zunehmend über das, was wir konsumieren. Du bist was du hast und dazu gehören auch unsere Beziehungen.
Grenzenlose Freiheit – Segen oder Fluch?
Freiheit und grenzenlose Wahlmöglichkeiten sind im Neoliberalismus heilige Güter. Aber trotz aller Vorteile, die sie uns bringen, kann es auch negative Auswirkungen darauf haben, wie wir Beziehungen eingehen – oder es eben erst gar nicht tun. Eva Illouz zufolge ist mit dem Kapitalismus auch eine neue Gefühlsstruktur entstanden, in der statt Vertrauen und Bindung, nun Ungewissheit und Selbstständigkeit im Zentrum stehen. Wir haben Schutzstrategien entwickelt, um unsere Gefühle in Schach zu halten. Wir vermeiden verbindliche Beziehungen um unsere grenzenlose Freiheit zu bewahren. Eine gut überlegte Wahl zu treffen kann uns dabei helfen, dass wir Beziehungen einzugehen, die uns glücklich machen. Aber häufig liegt das Problem nicht darin, welche Wahl wir treffen, sondern dass wir es überhaupt tun. Uns auf eine Sache festzulegen, scheint uns all die anderen Möglichkeiten zu verwehren. Denn vielleicht wartet das größere Glück schon im nächsten Match auf uns.
“Warum Liebe wehtut”, “Warum Liebe endet”. Wenn man sich den Büchern von Eva Illouz widmet, scheint es, als hätte der Kapitalismus die romantische Liebe zerstört. Es scheint als sei der moderne Menschen beziehungsunfähig, aber damit würden wir es uns doch zu einfach machen. Es steht außer Frage, dass der Kapitalismus unsere Art zu lieben und Beziehungen zu führen beeinflusst, aber wir sind dem nicht hilflos ausgeliefert. Wir können uns den modernen Umständen bewusstwerden und lernen mit ihnen umzugehen. In neuen Formen der Liebe, die Freiheit und Bindung zugleich möglich machen und Konsum nicht an erste Stelle setzen.
Zwischen all den Möglichkeiten haben wir auch die freie Wahl, uns dem kapitalistischen Markt nicht zu unterwerfen. Stattdessen können wir aktiv unsere eigenen Utopien von Liebe und Beziehung leben – so wie wir sie wollen.
#Beziehungsweisen – Wie wir zueinander stehen
Wir von uniCROSS beschäftigen uns diesen Monat unter dem Hashtag #Beziehungsweisen mit allem, was uns an der Zwischenmenschlichkeit interessiert.