Für die meisten Studierenden stellt sich die Frage, wie zugänglich die Uni eigentlich ist, überhaupt nicht. Für andere dagegen ist das Studium mit vielen sichtbaren und unsichtbaren Schwierigkeiten verbunden. Das beginnt etwa damit, überhaupt ins KG I zu kommen: Die Treppe zwischen Aristoteles und Homer ist etwa für Studierende im Rollstuhl unüberwindbar. Also musste stets der Schleichweg durch den Hintereingang des KG I herhalten: Ein Weg durchs Lager, der jetzt allerdings durch Bauarbeiten blockiert ist. Daneben gibt es den offiziellen barrierefreien Weg durch das KG II, der allerdings ein Umweg ist. „Man ist nicht behindert, sondern man wird behindert“, befindet Beate Massell.
Als Beauftragte für Studierende mit Behinderung und chronischer Erkrankung hat sie sich sechs Jahre lang dafür eingesetzt, dass die Uni für jede*n zugänglich wird, unterstützt vom Referat „Studieren ohne Hürden“ und der AG Mental Health. Nun hat sie ihren Job aufgegeben.
Der Großteil der betroffenen Studierenden leidet an einer psychischen Erkrankung. Diese Gruppe ist durch die Corona-Pandemie noch angewachsen. Dazu gehören auch Studierende mit einer Neurodiversität wie Asperger aber auch Studierende mit körperlicher Beeinträchtigung wie einer Seheinschränkung.
„Inklusion heißt nicht Sonderwünsche erfüllen“, sagt Beate Massell. Sie ist davon überzeugt, dass man die Leute nur fragen muss, was sie brauchen. Hatte sie das im Gespräch mit den Studierenden herausgefunden, setzte sie sich mit den Studiengangskoordinator*innen und Dozierenden zusammen, um zu überlegen, wie am besten mit den besonderen Bedürfnissen der Studierenden umgegangen werden kann. Dann kann ein Kurs gegebenenfalls in einen anderen Raum verlegt werden oder die Anwesenheitspflicht für die Person gelockert werden. Studierende, die blind oder hörbehindert sind, benötigen häufig eine Assistenz für den Unibesuch. „Die Beantragung einer Assistenz beim Amt ist ein Riesen-Akt“, sagt Massell. Dafür seien Gutachten und viele weitere Dokumente nötig. In anderen Ländern stünden Assistenzpersonen von der Uni bereit, in Deutschland muss der Antrag bei der örtlich zuständigen Sozialbehörde gestellt werden.
Die Aufgaben des*der Beauftragten für Studierende mit Behinderung oder chronischer Erkrankung umfassen neben der Beratung der Studierenden und Gesprächen mit Dozierenden auch Öffentlichkeits- und politische Arbeit – und das im Rahmen einer 50 Prozent-Stelle. „Das kann eine Person nicht stemmen“, befindet Zeno Springsklee vom Referat „Studieren ohne Hürden“. Er selbst habe als Autist am Anfang seines Studiums wertvolle Unterstützung von Beate Massell erhalten und wisse, wie wichtig das sei.
Eine Kernforderung des Referats lautet deshalb Aufstockung der Stelle auf mindestens 100 Prozent. Auch Beate Massell hätte sich das oder die Unterstützung durch eine weitere Person gewünscht: „So war ich immer Einzelkämpferin.“
Durch Weihnachtsspenden konnte für ein Jahr eine Hiwi-Stelle finanziert werden, doch eine Aufstockung der Stelle der Beauftragten für Studierende mit körperlicher Behinderung und chronischer Erkrankung ist offenbar nicht in Sicht. Die Universität betont, dass ihr die gleichberechtigte und selbständige Teilhabe von Studierenden mit Behinderung und chronischer Erkrankung an der Lehre wichtig sei und es die Stelle im vom Gesetzgeber vorgesehenen Umfang gebe. Zudem habe sich die Universität beim Land Baden-Württemberg dafür eingesetzt, dass die Mittel für eine Aufstockung der Stelle bereitgestellt werden. Dieser Einsatz werde weitergehen, „genauso wie die konstruktiven Gespräche mit den Vertreter*innen der Verfassten Studierendenschaft. Die Verfasste Studierendenschaft und die Universitätsleitung sind hierzu unter anderem über einen regelmäßigen gemeinsamen Jour Fixe in engem Austausch“.
Ein weiterer Grund für Frustration sei das Ringen um Nachteilsausgleiche, die Studierende mit körperlicher oder psychischer Erkrankung bei Prüfungen erhalten können, sagt Beate Massell. Früher seien diese auch bei psychischen und neurologischen Erkrankungen sowie Teilleistungsstörungen bewilligt worden, sodass Studierende bei Bedarf eine Schreibzeitverlängerung oder die Erlaubnis, auf dem Laptop zu schreiben, erhielten. Seit ein, zwei Jahren jedoch würden solche Anträge vermehrt abgelehnt, so das Referat „Studieren ohne Hürden“. Auf Anfrage teilt die Universität mit, dass aktuell keine allgemeine Statistik zu den Nachteilsausgleichen vorliege, da die Anträge von den einzelnen Prüfungsausschüssen geprüft würden. Eine Abfrage zur Statistik zu den Nachteilsausgleichen laufe derzeit. Außergewöhnliche Entwicklungen bei den Zahlen der bewilligten Nachteilsausgleiche in den vergangenen zwei Jahren könne die Universität aktuell nicht bestätigen. Falls die Abfrage zu einem anderen Ergebnis kommen sollte, solle dies aber umgehend überprüft werden.
Die Forderungen und die Kritik von Beate Massell und vom Referat „Studieren ohne Hürden“ haben mit Massells Kündigung neue Brisanz erhalten. „Das ist ein wunderbarer Job“, sagt sie, „doch er geht der Gesundheit ab.“ Deshalb habe sie beschlossen, ihre Stelle nach sechs Jahren aufzugeben. „Wenn ich das in meine Freizeit und den Urlaub mit reinziehe, stütze ich ja das System“, meint Massell. Mona Zeuner vom Referat „Studieren ohne Hürden“ versteht diesen Schritt, zeigt sich aber enttäuscht darüber, dass dieser nötig war: „Ohne Frau Massell und den immensen ehrenamtlichen Einsatz, den sie jahrelang zusätzlich zu ihrer 50 Prozent-Stelle geleistet hat, wird die Uni schwerer zugänglich – und gleichzeitig auch sehr viel ärmer.“
Bis November hat Beate Massell ihre Arbeit kommissarisch fortgesetzt und ihre Nachfolgerin Solveig Roscher eingearbeitet. Die studierte Sozialarbeiterin hat die 50 Prozent-Stelle nun übernommen.