Gerade noch hat Jake Bekanntschaft mit zwei anderen Männern auf dem Schiff gemacht, dann wird plötzlich alles still. Leise setzt romantische Klaviermusik ein und Rose tritt in Zeitlupe auf die Bildfläche. Die Sonne taucht sie in goldenes Licht und der Wind umspielt ihr Kleid. Die Musik wird lauter und Jake hat nur noch Augen für sie. Für die Zuschauer*innen von Titanic ist klar: Das ist Liebe auf den ersten Blick.
In Baz Luhrmanns Verfilmung von Romeo und Julia steht Romeo vor einem Aquarium, als dahinter auf einmal Julia auftaucht. Sie schauen sich in die Augen und schon sprühen die Funken – natürlich untermalt von gefühlvollem Gesang. Da wird Julia von ihrer Amme weggezerrt. Sie will den Blick nicht von Romeo abwenden und schaut sich ständig nach ihm um. Er überlegt nicht zwei Mal und rennt ihr hinterher – nur um zu sehen, wie sie mit einem anderen tanzen muss.
Es sind nicht nur Titanic und Romeo und Julia: In vielen der bei uns populären Liebesgeschichten findet sich das gleiche Narrativ. Schon bei der ersten Begegnung ist x Hals über Kopf in y verliebt.
Auch Taylor Swift singt in „Today Was a Fairytale“ zu ihrem Schwarm: „Fell in love when I saw you standing there.“ Die deutsche Band Münchner Freiheit hat sogar ein Lied, das „Liebe auf den ersten Blick“ heißt. Einen Film mit dem Namen gibt es übrigens auch.
Die Liebe auf den ersten Blick ist in Popkultur, Film und klassischer Literatur omnipräsent und wird als das romantische Ideal schlechthin dargestellt. Bei Leser*innen, Zuschauer*innen und Hörer*innen entsteht so unterschwellig die Erwartung, sie auch selbst zu erleben.
Aber wie realistisch ist das Narrativ der Liebe auf den ersten Blick eigentlich? Eine spontane, nicht repräsentative Umfrage unter Kommiliton*innen kommt zu dem eindeutigen Ergebnis: Liebe auf den ersten Blick? So ein Quatsch.
Doch um zu beantworten, ob es Liebe auf den ersten Blick wirklich gibt, muss man erstmal klären: Was ist Liebe überhaupt? Philosophie, Soziologie und Psychologie haben da sehr unterschiedliche Definitionen. Oft ist Liebe hier mit einer sexuellen Komponente verbunden. Doch Liebe gibt es auch in anderen zwischenmenschlichen Beziehungen. Familiäre, freundschaftliche oder romantische Liebe: Sie alle beruhen auf einer tiefen Verbundenheit.
Damit sich Bindungsmuster im Gehirn entwickeln können, die zu dieser Verbundenheit führen, braucht es Zeit, in der man gemeinsame Erfahrungen sammeln kann – ein einziger, erster Blickkontakt reicht dafür nicht aus. Natürlich kann man sich bei der ersten Begegnung zu einer Person hingezogen fühlen und einen „Crush“ auf die Person haben kann. Man kann sich in eine Person „vergucken“ und am Ende des Abends ist man vielleicht sogar schon verliebt.
Betrachten wir nun den zweiten Teil des Ausdrucks „Liebe auf den ersten Blick“. Dieser kommt nicht von ungefähr: Forscher*innen konnten zeigen, dass wir eine Person attraktiver finden, wenn wir direkten Blickkontakt mit ihr haben.
Aber das Wörtchen „Blick“ impliziert auch ein größeres Problem: Die Person, auf die man seine Liebe projiziert, wird nur nach dem ersten, rein äußerlichen Erscheinungsbild ausgewählt. Und selbst wenn man den Ausdruck nicht ganz wörtlich nimmt und ein kurzes Gespräch zum ersten Zusammentreffen zählt, bleibt das Phänomen doch ein oberflächlicher Eindruck, bei dem Aussehen eine dominierende Rolle spielt. Denn was sonst weiß man anfangs von einer Person?
Wie Forscher*innen der Universität Groningen zeigten, idealisieren wir eine Person, die wir als attraktiv empfinden, automatisch und schreiben ihr dabei sogar positive Eigenschaften zu, ohne über diesbezügliches Wissen zu verfügen.
Das Narrativ von Liebe auf den ersten Blick ist auch der Ausdruck einer oberflächlichen Gesellschaft. Das Subjekt der Liebe auf den ersten Blick wird mit großer Wahrscheinlichkeit nach den gängigen Schönheitsidealen unserer Gesellschaft ausgewählt. Wie der Psychologe Florian Zsok in einer Studie zeigen konnte, sind es meistens Männer, die behaupten, dass sie Liebe auf den ersten Blick erlebt hätten. Das passe zu den gängigen Vorstellungen, dass Männer besonders auf das Aussehen der Partner*in achten, sagte der Psychologe in einem Interview.
Aber Hand aufs Herz: Wie oft fandest du eine Person im ersten Moment attraktiv, nur um dann wenig später festzustellen, dass sie doch nicht so cool/nett/spannend/was auch immer ist, wie anfangs gedacht?
Vielleich reicht ein fünfminütiges Gespräch, um das herauszufinden. Oder lass es drei Dates brauchen, bis du feststellst, dass es dich extrem abtörnt, wenn dein Crush Sandalen mit Socken trägt oder nur Rohkost isst und du feststellst, dass ihr doch kein Traumpaar seid. Es ist doch so: In den allermeisten Fällen ist der Crush auf den ersten Blick ein Flop.
Jake und Rose hatten eine schöne Zeit auf der Titanic – zweifellos. Aber was wäre danach gekommen? Wir werden es nie erfahren, schließlich ist Jake gestorben. Wahrscheinlich hätten sie schon nach den ersten Tagen in Amerika gemerkt, dass sie ganz andere Vorstellungen vom Leben haben und ihre gegenseitige Anziehung nicht für etwas Tieferes ausreicht.
Das Narrativ der Liebe auf den ersten Blick funktioniert in Kombination mit dem Konzept der Liebe des Lebens. Die Person, in die sich die Filmprotagonist*in verliebt, wird als Liebe ihres Lebens dargestellt. Es sieht buchstäblich nach der klassischen Endformel aller Märchen aus: „Sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende.“ Die Sache ist nur, dass wie bei Romeo und Julia und Jake und Rose entweder eine oder beide Personen schon sehr früh sterben. Trotzdem wird suggeriert, dass sie weiterhin zusammen glücklich gewesen wären, wenn sie denn noch leben würden. Sonst hätte sich Romeo schließlich nicht nach Julias Tod selbst umgebracht.
Man muss nicht erst einen Blick auf die Anzahl der Scheidungen werfen, um zu realisieren, dass die Erzählungen der Liebe seines Lebens selten der Wirklichkeit entsprechen.
Die Liebe auf den ersten Blick wird also selten zur Liebe des Lebens. Gewissermaßen ist es sogar genau andersherum. Paare, die bereits länger zusammen sind, tendieren dazu, ihre Liebesgeschichte zu idealisieren. Die Vorstellung, dass sie sich bereits bei der ersten Begegnung Hals über Kopf ineinander verliebt haben, ist eine romantische Geschichte, die sich gut erzählen lässt – sich selbst und anderen.
Wahrscheinlich hält sich das Narrativ der Liebe auf den ersten Blick genau deshalb so hartnäckig am Leben: Wir wollen es gerne glauben und die Filmbranche hilft uns auch noch dabei, indem sie die Erzählung weiterhin fleißig reproduziert.