Herr Dornberg, Sie sind Lehrbeauftragter für Philosophie an der Uni Freiburg, Facharzt für Innere Medizin, Psychosomatik und Psychotherapie sowie der Leiter des Zentrums für Psychotherapie und Psychosomatik im Ärztehaus am St. Josefskrankenhaus. Worin besteht Ihre Arbeit als Psychotherapeut?
Ich leite ein Zentrum, zu dem viele Patient*innen durch ärztliche Empfehlung kommen, um zu prüfen, ob eine psychische Komponente bei einer körperlichen Erkrankung oder eine eigenständige psychische Störung vorliegt. Es wird dann insbesondere auch ein Behandlungskonzept erstellt. Wenn eine Psychotherapie in Frage kommt, Medikamente oder eine stationäre Aufnahme, leiten wir diese auch ein und führen sie oft selbst durch. Es geht also im Wesentlichen um Abklärung und Behandlung. Ein dritter Bereich ist die Aus- und Weiterbildung für angehende Ärzte oder Psychologen in den Bereichen Tiefenpsychologie, ein von der Psychoanalyse abgeleitetes Verfahren, und systemische Therapie, die in der Behandlung den sozialen Kontext der Patient*innen stärker mit einbezieht.
Sie beschäftigen sich mit Sigmund Freud. Wofür steht der Name Sigmund Freud und wofür ist er bekannt geworden?
Sigmund Freud ist in unserem Kulturkreis wahrscheinlich der bekannteste Erfinder eines Psychotherapieverfahrens oder der Psychotherapie überhaupt. Es hat zwar immer schon Formen von Psychotherapie gegeben in unserer Kultur, aber den wissenschaftlichen Kontext betreffend hat Freud die größte Reputation. Die in Deutschland anerkannten Psychotherapieverfahren teilen sich im ambulanten Bereich etwa zur Hälfte in von der Psychoanalyse abgeleitete Verfahren –„psychodynamische Psychotherapien“ genannt – und zur anderen Hälfte in Verhaltenstherapien.
Es gibt also eine Spaltung zwischen mehr an dem Gespräch und an Freud orientierten Therapiemethoden, die wir unter den Term „psychodynamische Verfahren“ zusammenfassen, und mehr am Lernen orientierten, behavioristischen Verhaltenstherapien.
Es gibt vermehrt kritische Stimmen, die sich gegen Freud wenden und zum Beispiel dessen Geschlechtsbilder beanstanden. Woher kommt das?
Jedes kulturelle Erzeugnis ist auch von historischen Variablen abhängig und in ständiger Selbst- und Fremdkritik befindlich. Natürlich war auch Freud ein Kind seiner Zeit. Er hat die Psychoanalyse und die davon abgeleiteten Verfahren unter den Prämissen seiner Kultur und Gegenwart entwickelt. Es gibt zum Beispiel eine starke Beschränkung auf den Familialismus, also eine Beschäftigung mit „Vater-Mutter-Kind“, wohingegen heute soziale- und Arbeitsbedingungen stärker für die Psychotherapie gewichtet werden.
Freud vertrat stark die Ansicht, dass Leid aus der Familie kommt. Er hatte sich zu Beginn viel an Themen wie Inzest, Vergewaltigung und Trauma abgearbeitet, wovon er sich später ein wenig abwandte. Seine starke Konzentration auf die Familie zieht sich aber durch und ebenso ein bestimmtes Menschenbild, das zu seiner Zeit bürgerlich und patriarchal geprägt war: Das Konzept der Fortpflanzung als Sinn der Sexualität oder das Modell einer männlichen Sexualität waren damals führend. Andere Gebiete von Lust oder Fragen der Geschlechteridentität waren und wurden von ihm ausgeklammert oder abgewertet. Das ist später kritisiert worden, insbesondere die Kastrationsangst der Männer und der Penisneid der Frauen, wonach Frauen sich gegenüber dem Mann prinzipiell minderwertig fühlen müssten.
Zu welchem Zweck wird heute noch die Psychoanalyse angewandt und wo liegt der effektive Unterschied zur Verhaltenstherapie?
Rein analytische Therapien sind ein hochfrequentes Vorgehen, in dem der Patient mehrheitlich auf der Couch liegt und mindestens zwei-, eher dreimal oder viermal die Woche zur Therapie kommt. Das ist aber ein sehr seltenes Verfahren, nur noch zwei Prozent der ambulanten Kassen-Therapien in Deutschland sind rein analytisch. Bei der von Freud abgeleiteten Tiefenpsychologie wird die Patient*in einmal in der Woche im Sitzen behandelt, das wird im ambulanten Bereich zu 45 Prozent durchgeführt, Stand 2014. Knapp die Hälfte der ambulanten Psychotherapien in Deutschland orientieren sich also an Freud.
Psychodynamische Therapieverfahren wie die hochfrequentierte Psychoanalyse und die Tiefenpsychologie sind ähnlich wirksam wie die Verhaltenstherapie. Was man anwendet, hängt letztlich vom Interesse der Patient*in ab. Wenn die Patient*in versucht, sich mit seiner eigenen Biographie auseinanderzusetzen oder das Bedürfnis hat, die bio-psycho-sozialen Faktoren, von denen man geprägt ist, zu verstehen und gegebenenfalls zu verändern, dann würde man eher mit psychodynamischen Verfahren arbeiten.
Wenn jemand ein sehr stark symptombezogenes Krankheitsverständnis hat und lernen will, wie man von den Symptomen loskommt, aber nicht primär an den Hintergründen interessiert ist, würde man grob Verhaltenstherapie empfehlen. Es ist aber eine einseitige Darstellung, dass die Verhaltenstherapie nur einen rein symptomlindernden Anspruch hätte. Alle Verfahren versuchen, ursächlich zu behandeln.
Welche Methoden wenden Sie in Verbindung mit Freud an und wie sprechen Ihre Patient*innen darauf an?
Welche Methoden angewandt werden, hängt wie gesagt von den Präferenzen und der biopsychosozialen Situation der Patient*in ab. Wenn ich das Gefühl habe, die Patient*in würde von einem beziehungsorientierten Vorgehen profitieren, spricht das für das psychodynamische Vorgehen, ebenso wenn eine längere Behandlung vonnöten ist. Ein systemisches Verfahren bevorzuge ich dann, wenn es sinnvoll ist, Angehörige einzubeziehen und die Bedeutung der sozialen Systeme wie Familie oder Beruf stark zu berücksichtigen.
In der Psychodynamik arbeiten wir beziehungsorientiert, zum Beispiel mit den Konzepten von Übertragung und Gegenübertragung. Letzteres heisst, erlebbar zu machen, ob und in welcher Form die Patient*in alte Muster auf die Gegenwart und zum Beispiel auf die Therapeut*in überträgt. Die Patient*innen erleben das oft als sehr bereichernd, manchmal aber auch als schmerzhaft.
Gibt es Ansätze bei Freud, die Sie für antiquiert halten?
Gute Frage. Das Geschlechterbild von Freud inklusive des Penisneids halte ich für antiquiert. Ebenso ein von bürgerlichen Vorstellungen geprägtes Entwicklungsmodell der Psyche, nach dem ein ganz bestimmter Lebenslauf für Gesundheit normativ wird.
Bei Freud ist körperliche und seelische Gesundheit dann der Fall, wenn dem Menschen die „Reife zum Erwachsenen“ gelingt. Das heißt, er muss seine Pubertät überstehen und dann „heiraten und Kinder kriegen“. Die Sexualität ist bei Freud, der mit von Gedanken Darwins beeinflusst war, sehr stark an die Fortpflanzungsfunktion gebunden, an den „Erhalt der Gattung“. Dahinter steckt eine Normativität, die man kritisieren und in Frage stellen muss. Ebenso die Vorstellung, dass die Klitoris einen verkrüppelten Penis darstellt oder der vaginale Orgasmus das Ziel beim Geschlechtsverkehr sei. Wir arbeiten heute mit anderen Vorstellungen und Bildern, zum Beispiel, dass es den vaginalen Orgasmus so nicht gibt und die Klitoris viel größer und umfassender ist, als Freud es gedacht hat.
War bei Freud schon der Hauch einer Ideologie vernehmbar?
Foucault, der ein wichtiger Kritiker der Psychoanalyse war, hat die sogenannte Repressionshypothese der Psychoanalyse kritisiert, nach der die Sexualität prinzipiell unterdrückt wird. Das bedeute im Umkehrschluss den Zwang, seine Sexualität leben zu müssen, wenn man gesund oder glücklich sein will. Das hat insbesondere viele Homosexuelle unter Druck gebracht, auch weil Sexualität zur Fortpflanzung normiert und etwa Homosexualität abgewertet wurde. Foucault kennzeichnet diese Einstellung als unsichtbaren Machtmechanismus, den man schon sehr in die Nähe einer Ideologie bringen kann.
Auf der anderen Seite kann man auch sagen, dass viele Psychodynamiker*innen an einer Weiterentwicklung ihres Verfahrens sehr interessiert sind und die psychodynamischen Therapieverfahren dauernd zu reformieren und die Bedürfnisse der Patient*innen und der sozialen Situation unserer Zeit anzupassen suchen. Also Heilung und Entwicklung suchen und nicht eine Ideologie fortschreiben. Es gibt zum Beispiel in der psychodynamischen Psychotherapie viele Stimmen, die darauf aufmerksam machen, dass globale Probleme wie der Klimawandel, Hunger oder Migrationsströme bei der Psychotherapie berücksichtigt werden müssen. Also Psychotherapie nach Freud ist durchaus in Bewegung.
Wie werden Freuds Gedanken weiterhin adaptiert und angeeignet?
Die Aneignung im engeren psychotherapeutischen Feld geschieht in der Aus- und Weiterbildung. Die jüngeren Kolleg*innen sind die, welche die an Freud orientierten Verfahren in Zukunft weiterentwickeln müssen und werden. 2019 hat knapp ein Drittel der Psychotherapeut*innen in Ausbildung als ihr Ausbildungsverfahren die psychodynamischen Verfahren gewählt und zwei Drittel die Verhaltenstherapie. Die Entwicklung geht dort momentan also eher weg von Freud.
Ich glaube aber nicht, dass sich das fortsetzen, sondern “korrigieren” wird. Das Interesse an psychodynamischen Verfahren wird steigen, ebenso an den systemischen Verfahren. Die psychologischen Lehrstühle an der Universität sind aber im Moment zu 98 Prozent von Verhaltenstherapeuten besetzt. Das hat natürlich einen Einfluss.
Ich bin aber sicher, dass die Aus- und Weiterbildungskandidat*innen ihre Verfahren ständig weiterentwickeln werden durch Kritik und Selbstkritik, durch Kontakt mit den Patient*innnen oder auch in Reaktion auf allgemeine Fragen zum Beispiel in Bezug auf die globalen Krisen.
Die psychodynamischen Verfahren spielen im weiteren Kontext aber auch in den Geistes- und Kulturwissenschaften eine sehr große Rolle, wie zum Beispiel in der Philosophie, den Medienwissenschaften oder der Ethnologie. Dabei bilden psychoanalytische Methoden einen wertvollen Beitrag, was das Verständnis zum Beispiel von Filmen und bestimmter Kulturphänomene angeht. Auch außerhalb der Psychotherapie wird es also Impulse zur Weiterentwicklung von Freuds Gedankengut geben. Zwischen Innen und Außen der Psychoanalyse besteht immer eine Wechselwirkung.