Prof. Dipl. Ing. Wulf Daseking war von 1984 bis 2012 Leiter des Stadtplanungsamtes Freiburg und ist Mitglied im Institut für Soziologie der Universität Freiburg. Was macht eine lebenswerte Stadt aus? Wie sieht er die Stadtteile Stühlinger, Vauban, Wiehre und Weingarten. Und warum junge Menschen die Stadtplanung der Zukunft „nicht den alten Säcken überlassen“ sollten.
Herr Daseking, was versteht man unter Stadtsoziologie?
Die Stadtsoziologie beschäftigt sich mit den Zusammenhängen in der Stadt. Die menschlichen Strukturen, aber auch die Baustrukturen spielen dabei eine große Rolle. Und Stadtplanung und Soziologie sind zwei Dinge, die sich die Hände schütteln müssen. Was passiert mit Migration und mit der Zusammensetzung von Bevölkerungsschichten? Wie kann man das beeinflussen? Was ist für die Zukunft wichtig? Wie kann man Impulse geben? Das alles setzt die Stadtsoziologie an Analysen frei und ist der Ort, die Grundlage, damit die Stadtplanung die Stadt anders strukturiert.
Wie ist das in einer Stadt wie Freiburg umsetzbar?
Ökonomie, Ökologie und Soziales ins Gleichgewicht zu bringen und tatsächlich dafür Sorge zu tragen, dass die Elemente ausgewogen aufeinanderstoßen, das ist das Thema der Stadtentwicklung und der Stadtplanung. Dass das zu Konflikten führt, ist selbstverständlich. Diejenigen, die am kommerziellen Interesse einer Stadt zerren, haben völlig andere Sichtweisen als diejenigen, die auf die Ausgeglichenheit achten. Da braucht es Konfliktfähigkeit. Die gesamten unterschiedlichen. Positionen müssen auf den Tisch, müssen entsprechend gewertet und ernst genommen werden.
Wie ist es zu erklären, dass Klischees und Vorurteile zu einer Stadt und einzelnen Vierteln entstehen?
Da gibt es etwa Quartiere, in denen das sogenannte Bürgertum wohnt. Die achten verdammt peinlich darauf, dass sich das in ihrer Nachbarschaft nicht zu doll verändert. Und zwar weil man sich so schön wohlig eingelebt hat. Gerade diejenigen, die beispielsweise durch Erbfaktoren dazu gekommen sind, sich Dinge zu leisten, sind plötzlich die neuen Konservativen. Man muss da achtgeben. Genauso ist es in anderen Quartieren, beispielsweise aus den 70er Jahren. Wie kann ich Veränderungsprozesse in die Quartiere der 70er Jahre hineinpacken, die so eine Art Stigma haben? Das ist eine ganz komplizierte und sehr feinfühlige Sache. Und der Stadtplaner ist nicht jemand, der als Schlachter durch die Welt läuft, sondern eher als Chirurg. Man setzt das Skalpell an und fängt an zu sezieren. Und das Ganze ist nur machbar, indem ich das diskutiere mit der Bürgerschaft, mit den politisch Verantwortlichen, aber auch mit den unterschiedlichen fachlichen Disziplinen.
Die Stadt der Zukunft ist die Stadt der Stadtteile
Herr Daseking, wir haben eine Straßenumfrage zu einzelnen Stadtteilen und deren Klischees gemacht und würden gerne Ihre Meinung zu den entsprechenden Kommentaren hören.
Stühlinger, ein junges Party-Viertel mit Drogenszene?
1983, da war das ein Quartier hinter dem Bahnhof. Das hat man in jeder Stadt. Der Stühlinger war ein völlig heruntergekommenes Quartier. Was konnten wir ändern? Wenn die angrenzenden Gebäude uns nicht gehören, können wir die Straßen, die Plätze qualifizieren.
Wo heute der Kirchplatz ist, war früher eine Straße, das Ganze war geteilt. Wir haben versucht, neue Architektur dort reinzupacken. Dadurch hat eine erhebliche Preissteigerung stattgefunden. In Nähe des Bahnhofs findet Drogenhandel weiterhin statt, aber nicht in dem Maße wie früher. Es hat sich dadurch stabilisiert, dass die Leute in ihrem Quartier herum gucken. Und nichts ist besser, als wenn die Leute eigenständig dafür Sorge tragen. Also hier hat eine Stabilisierung stattgefunden, aber die Mietpreise sind massiv hochgegangen. Aber es ist halt ein Hip-Stadtteil. Für die jungen Leuten gibt es zwei Quartiere, die sehr stark angenommen werden. Und das sind der Stühlinger und das Vauban-Gelände.
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Was uns zum nächsten Viertel bringt: Vauban, das grüne Vorzeigequartier, öko und Lebensraum der Hippies?
Jeder kennt Vauban. Für mich zum Teil überzogen. Diese Wertigkeit ist deswegen für mich so erstaunlich, weil das doch an sich ein normaler Stadtteil sein sollte. Was finden die Leute da so berauschend dran?
Der öffentliche Personennahverkehr geht in die zentralen Bereiche herein, es sind alle Einkaufsmöglichkeiten des täglichen Bedarfs dort, es gibt unterschiedliche Wohnmöglichkeiten. Wir haben den Verkehr massiv reduziert, ein Konzept fürs Wasser und für die Energie gefunden. Nichts weiter als das, was normal sein müsste bei einem Neubau-Quartier. Es sind Studenten drin, es sind ältere Leute drin. Ältere Leute ziehen langsam aus. Die Preise gehen auch da ab wie die Post.
Die Vorteile des Quartiers sind auch all die Schulen und Spielbereiche und die Einkaufsmöglichkeiten. Das geht nur, wenn ich ein Konzept habe, was politisch diskutiert wurde, was mit der Bürgerschaft besprochen wurde und was man dann Parzelle für Parzelle in die Realität umsetzt.
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Weingarten als Problemviertel, sozial schwache Schicht und Kriminalität?
Weingarten wurde in den 70er Jahren entwickelt, damals herrschte ein großer Zuzug in die Stadt. Deshalb baute man Wohnungen. Ein Drittel Sozialwohnungen, ein Drittel normale Wohnungen und ein Drittel Eigentumswohnungen. Ende 1983 standen in Weingarten sehr viele Wohnungen leer. Sehr viele Russlanddeutsche kamen zurück. Man hat diese Leute alle an eine Stelle gepackt. Man hat gesagt, da ist freier Raum, wir haben Not, wir stecken die da rein und damit kam eine Art Stigmatisierung und das haben wir erkannt in den 80er Jahren, analysiert und gesagt, was können wir denn jetzt tun?
Und der damalige Oberbürgermeister Dr. Böhme sagte: Wir renovieren diese Häuser. Da hat man über Jahre hinweg diesen Stadtteil wieder strukturiert. Viele Leute, die über den Bereich Weingarten die Nase rümpfen, waren möglicherweise noch gar nicht mal da. Wir haben diese Häuser umgebaut in fast Null-Energie-Häuser, also hochpreisig investiert. Hordenweise laufen die jungen Ingenieure dahin und gucken sich das an und so was zieht in einer Stadt.
Weingarten hat eine riesengroße Chance: neue Impulse setzen, auch mit neuen Wohnungsbau-Bauten, die Straßenbahn dort reinbringen, den öffentlichen Raum zu qualifizieren, daran gilt es, weiter zu arbeiten.
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Und wie steht es mit der Wiehre mit den schönen Altbauten für die reichere Klientel?
Zunächst mal: Wie ist die Wiehre entstanden? Nachdem der Krieg 1871 mit Frankreich zu Ende war, ist dieses Stadtquartier entwickelt worden, auch weil man sehr viele Leute aus dem Norden nach Freiburg geholt hat. Im Norden herrschte die Cholera, und man hat den Leuten, die Geld hatten, gesagt, kommt doch hierher, hier könnt ihr wunderbar wohnen, ihr habt alles hier.
Freiburg war sehr zerstört im Zweiten Weltkrieg, die Wiehre aber blieb verschont. Dann wurden diese Wohnungen wiederentdeckt von Leuten, die anders als in typischen genormten Wohnungen leben wollten. Und sie konnten es sich auch leisten, z. B. durch Erbschaften: „Wir sind hier jetzt jemand, wir fühlen uns wohl und wollen keine Veränderungsprozesse.“
Aber es gibt auch eine ganze Menge Sozialwohnungen dort. Es sind Genossenschaftswohnungen da, die man halten muss.
Der Schwerpunkt liegt in der Wiehre natürlich auf denjenigen, die zum saturierten Wohlstandspotenzial einer Stadt gehören. Und deswegen haben wir an Stellen versucht, auch Eigentumswohnungen für jüngere Leute und auch soziale Bereiche dort zu etablieren. Aber es hält sich in Grenzen, weil die Grundstückspreise dort irrsinnig hoch sind.
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Wie kann es denn nun gelingen, uns ein objektives Bild von stigmatisierten Stadtteilen zu machen?
Es ist nie gut, in eine Stadt zu kommen und in die Innenstadt zu gehen. In der Innenstadt ist mehr oder minder alles aufpoliert.
In den Bus oder in die Straßenbahn setzen, raus in die Quartiere und dann einfach mal einen Tag durchgehen. Funktioniert es mit den ganzen Einrichtungen? Sind Kindergärten da, spielen Kinder auf den Grünflächen, sind Ladenflächen da, gibt es kulturelle Einrichtungen? Wie sieht es aus, annehmbar oder ist alles völlig versifft? Rausgehen, ein eigenes Bild machen.
Eine Stadt lebt, die Stadt der Zukunft ist die Stadt der Stadtteile. Und wenn die funktionieren, dann ist eine Stadt gut. Was für mich funktioniert, muss für dich noch lange nicht funktionieren. Aber darüber muss eine Diskussion aufkommen. Das Entscheidende ist das Miteinander, die Auseinandersetzung.
Und ich appelliere an euch junge Leute, seid unbequem und gestaltet die Welt, in der ihr und eure Kinder später leben müsst. Überlasst das nicht uns alten Säcken, ihr müsst euch einschalten und ihr müsst sagen: Wir wollen unsere Stadt so und so und ihr müsst eine Stimme haben, die auch Multiplikatoreffekt bekommt. Und kein Politiker wird über das, was die jungen Leute sagen, hinweggehen können. Da sehe ich eine riesengroße Chance für euch, für die Zukunft und gerade für die Städte.
Vielen Dank, Herr Daseking
Freiburg damals und heute: von Gerberhunden und Stadtperlen
Die Perlen von Freiburg – selbst Alteingesessene kennen sie teilweise noch nicht. Schlafgänger und Gerberhunde, wie ist der Stadtteil Stühlinger entstanden und was sind die Besonderheiten von Haslach? Welche drei Orte in Freiburg sollte man unbedingt gesehen haben? Und wo findet man noch die “alte Seele” der Stadt? In diesem Podcast spricht Shawn-Orric Dreyer mit Carola Schark. Sie führt Menschen seit 30 Jahren durch Freiburg.