Muße und Müssen
In den Diskussionen um Klimaschutz ist auch der Wald neben dem steigenden Meeresspiegel und den schmelzenden Polkappen in den Mittelpunkt gerückt und mit ihm die Frage nach seiner Erhaltung. Das neue Bewusstsein zeigt jedoch auch, dass wir nicht nur den Wald erhalten müssen, sondern dass auch der Wald uns erhält. uniCROSS hat mit einer Doktorandin über die Suche nach der Muße im Wald gesprochen und im Selbstversuch gemerkt, wie schwer und wie wichtig die Rückkehr in den Wald sein kann.
Ich habe einen anstrengenden Weg in den Wald gewählt. Schwer atmend stapfe ich voran, den Regenschirm aufgespannt, die Kameratasche über der Schulter, und an meinen Füßen meine schweren wasserfesten Stiefel. Es geht immer weiter bergauf, bis sich vor mir endlich die Sicht ins Tal auftut und sich hinter mir der Wald kilometerweit in alle Richtungen erstreckt. Das alles, bilde ich mir ein, gehört bereits zu meinem Waldspaziergang dazu. Die Luft fühlt sich kühl und feucht an auf meiner Haut. Hier riecht die Luft schon anders, frisch und grün, und ich atme so tief ein, bis ich einen leichten Schwindel verspüre. Es ist still, die einzigen Geräusche rühren von meinem rauschenden Puls in den Ohren (von einem Anstieg, der eindeutig nicht für Asthmatiker geeignet ist) und dem Wind, der hier ungehindert weht. Aber: genug verweilt. Ich bin auf der Suche nach der Muße, und ich muss jetzt los.
Sibylle Roth ist Doktorandin im Sonderforschungsbereich (SFB) 1015 Muße, Grenzen, Raumzeitlichkeit, Praktiken und forscht im Rahmen ihres Promotionsprojektes unter welchen Bedingungen sich bei einem Aufenthalt im Wald die Muße einstellt. Im Interview erklärt sie diesen Prozess genauer: „In unserem Projekt gehen wir davon aus, dass der Wald als Ort gegeben ist, die Muße darin aber nicht unbedingt vorhanden sein muss. Diese gilt es zu identifizieren. Wir analysieren nach bestimmten Kriterien und Bestimmungsstücken, die für uns Mußeräume ausmachen, und versuchen rauszufinden, ob diese Kriterien im Wald von Individuen wahrgenommen, konstruiert und empfunden werden können.“ Auf eine genaue Definition von Muße verzichtet Roth. Stattdessen spricht Roth unter anderem von Gefühlen des Glücks und der Freiheit. „Muße-Momente können von tätiger Untätigkeit und produktiver Unproduktivität geprägt sein“, erklärt sie und zeigt wie sich diese gegensätzlichen Begriffe nicht unbedingt ausschließen müssen. In diesen Momenten der scheinbaren Untätigkeit oder Unproduktivität erlauben wir unseren Gedanken außerhalb einer rigiden Zielverfolgung zu fließen, und es können sich somit völlig neue Ideen einstellen.
Das klingt vielversprechend. Doch selbst jetzt merke ich, als ich vor mir die Bäume in die Höhe ragen sehe, dass ich mit einem klaren Ziel vor Augen auf der Suche nach der Muße bin. Ich stehe jetzt schon unter Leistungsdruck: Ich muss darauf achten, wie der Wald aussieht und auf mich wirkt, ich muss die Atmosphäre des Waldes wahrnehmen, um sie später in meinem Bericht überzeugend wiederzugeben. Ich muss ein paar Fotos knipsen, die zuhause nachbearbeitet werden. Ich muss die Muße finden, denn worüber soll ich sonst schreiben? Das Problem wird schnell klar: „Muße“ und „müssen“ schließen sich gegenseitig aus. Ich habe nicht die Konditionen geschaffen, in denen sich die Muße einstellen kann. Diese Gedanken wirbeln bereits in meinem Kopf umher, bevor ich den Wald überhaupt betreten habe. Ich versuche es dennoch.
Meine Gedanken spiegeln ein ernsthaftes Problem dieser schnellen Gesellschaft wider. Dabei kann die Muße ein wichtiges Werkzeug sein, das uns dabei hilft zu entschleunigen. „Das Leben in der Muße, in der Leere, scheint zunehmend schwierig in der heutigen Welt. Diese Leere traut sich kaum jemand mehr zu, da die Angst, als faul abgestempelt zu werden, zu groß ist“, erläutert Sibylle Roth. „Die Muße ist aber nicht Faulheit und nicht die Gegenwelt zur Arbeit. Das Gegenteil ist eher der Fall. Man kann gar nicht so leistungsfähig sein, wie man es vielleicht möchte, wenn man unter konstantem Druck steht. Die Kreativität, die Muße-Momente in Phasen der produktiven Unproduktivität auslösen können, spielt auch für die Leistungsfähigkeit eine wichtige Rolle. Die kann sich, ähnlich der Muße, auch nur einstellen, wenn der richtige Zeitraum und -rahmen gegeben ist. Die Einstellung, dass etwas zwischen 8 und 19 Uhr passieren muss, ist hier hinderlich.“ Sibylle Roth illustriert damit den Wandel vom human being zum human doing, und plädiert dafür, dass wir wieder den Weg zurück zum human being einschlagen: „Das schaffen wir, indem wir versuchen, das Sein zuzulassen und nicht immer auf der Suche nach einem Ergebnis sind. Das scheinen viele Menschen nicht mehr zu können.“
Im Wald führe ich mir diese Schilderungen unseres modernen Daseins vor Augen und versuche bewusst, alles auszublenden, was nicht hier und jetzt in diesem Wald ist. Es fällt ein leichter Nieselregen und neben dem Rascheln der Blätter kann ich auch das leise Tropfen des Regens wahrnehmen, unter dessen Gewicht die Blätter einen Sprung nach unten machen. Im Himmel bildet die grüne spätsommerliche Laubdecke einen beruhigenden Kontrast zum bedrohlichen Grau der Regenwolken und auch das spärliche Licht das durch die Baumkronen fällt, ist beinahe grünstichig. Ich merke, dass sich meine tatkräftigen Schritte verlangsamen und statt auf meine Gedanken zu hören, höre ich nun den Wald. Ein Rascheln, zwitschern, der dumpfe Klang von Kastanien, die auf die weiche Erde fallen; auf all das versuche ich mich zu konzentrieren. Ich werde kleiner zwischen diesen Giganten, aber das stört mich nicht. Im Gegenteil, ich merke, wie etwas Anspannung abfällt. Die Zweifel und Ängste, die ich immer mit mir trage und zwischen meinen verspannten Schultern sitzen, scheinen plötzlich unwichtiger. Der Wald lebt hier sein eigenes Leben in einem eigenen Tempo, in jeder Sekunde wächst etwas in die Höhe, oder es wird etwas zersetzt, um von kleinen Krabbelwesen fortgetragen und weiterverarbeitet zu werden. Aber es ist ruhig, der Wald lässt sich Zeit. Mich beschleicht das schlechte Gewissen, weil ich laut und anmaßend in diese stille Welt eingedrungen bin, beinahe mit der Erwartung, dass sie mir etwas schuldet. Meine Bewegungen werden sanfter und andächtig, als sei ich in einer Kirche statt unter den Baumkronen im Regen.
Das Bedürfnis des Menschen, in der Natur zu sein, wird als Biophilia bezeichnet. Der Begriff wurde bereits 1984 von Edward O. Wilson gemünzt und findet heute wieder Aufschwung. „Das bedeutet (ebenfalls), dass wir Menschen ein Bedürfnis haben, in den Rhythmen und der Zeit zu leben, die von der Natur vorgegeben sind“, erzählt Sibylle Roth im Interview. Im Wald werde ich schnell darauf aufmerksam, wie langsam und bedächtig die natürliche Zeit auf mich wirkt. Das Ticken meiner Uhr wirkt dagegen fast grotesk, fremd und eigensinnig. Allerdings stellt sich die Frage, wieso ausgerechnet der Wald, und nicht etwa See- oder Berglandschaften, der Forschungsgegenstand in diesem Teilprojekt des SFB ist. „Der Wald als Raum der Muße ist bereits historisch geprägt,“ erklärt Sibylle Roth. „Als Ort der Sehnsucht und auch als gesunder Ort des Aufenthaltes bietet der Wald Aspekte, die dazu beitragen können, dass sich die Muße einstellt. Die Muße ist ein raum-zeitliches Konstrukt. Es gibt muße-affine Strukturen, die Muße-Momente möglich machen. Dazu gehören auch azyklische Zeitstrukturen, wie wir sie im Wald finden. Wir versuchen die Frage zu beantworten, wo das Zusammenspiel von Mensch, Wald und Muße besteht. Innerhalb des Waldes spielen Geräusche, Farbe, Lichteinfall und Farbkulisse eine Rolle, ebenso wie die persönliche Einstellung des Individuums, das sich in den Wald begibt.“
Ich schaue mich um, und frage mich, wie es um meine eigene persönliche Einstellung zum Wald steht. Der Schwarzwald ist meine Heimat. Nicht etwa, weil ich besonders viel Zeit darin verbracht habe, sondern weil er zur Kulisse meiner Erinnerungen gehört. Der Wald ist der Hintergrund, vor dem sich mein bisheriges Leben abzeichnet. Sibylle Roth erklärt den Zusammenhang zwischen der eigenen Sozialisation und dem Raum, den ein Individuum schafft: „Da wir mit einem raumkonstruktivistischen Modell der Muße arbeiten, gehen wir davon aus, dass Räume nicht gegeben sind, sondern jedes Individuum einen Raum schafft. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass zwei Individuen einen Wald betreten können, der für sie optisch gleich aussieht, aber nicht der gleiche Wald ist. Vielleicht haben die zwei Personen unterschiedliche Wissensstände und vielleicht ist eine Person mit dem Wald groß geworden und für die andere stellt der Wald einen geheimnisvollen, fremden Ort dar. Dieses Wissen bringt jedes Individuum selbst mit und legt es in die eigene Raumkonstruktion.“
Das Waldbaden hat den Fokus, Menschen aus einer krankmachenden Gesellschaft in die heilende Natur zu bringen, um sie dann wieder gesund zurück in die Gesellschaft zu führen.” Neben dem neuen Bewusstsein über die Fragilität des Waldes in den Debatten um die Klimakrise ist bei uns auch der Trend des japanischen shinrin-yoku, des Waldbadens, angekommen. Die gesundheitlichen Vorzüge des Waldbadens sind vielzählig: Von der Vermehrung der Krebs-Killerzellen bis zur Senkung des Blutdrucks. Für diese Walderfahrung sind allerdings spezielle Erholungswälder besonders geeignet, die mit einem gesundheitlichen, medizinischen und therapeutischen Fokus ausgewählt sind, die die Sinne nicht überlasten sollen und somit auch dazu beitragen, dass das Nervensystem beruhigt wird und mechanische Prozesse im Körper runtergefahren werden. „Das Waldbaden hat den Fokus, Menschen aus einer krankmachenden Gesellschaft in die heilende Natur zu bringen, um sie dann wieder gesund zurück in die Gesellschaft zu führen. Die Muße dagegen sollte jeder Mensch erfahren können, egal ob krank oder gesund“, unterscheidet Sibylle Roth. Wie ein Muße-Wald als mögliche Ergänzung zum Erholungswald aussehen kann, wird sie nächstes Jahr im Rahmen ihres Promotionsprojektes untersuchen.
Auf dem Weg raus aus dem Wald wird mir bewusst, wie die Gedanken, die ich die letzten zwei Stunden verdrängt habe, wieder zurückströmen und mich einnehmen. Ich frage mich, ob ich über mein Scheitern auf der Suche nach der Muße schreiben kann, wann ich die Fotos bearbeite und plötzlich bricht alles über mich herein. Die Erholung und die Ruhe habe ich im Wald gelassen, die Muße sowieso und mit ihr die schöpferische Pause, die mir zu neuer Kreativität verhelfen sollte. Sofort fühle ich mich niedergeschlagen und erschöpft: die Lauferei war völlig umsonst. Aber ich merke nun beim Schreiben, dass ich in der Erinnerung an die Ruhe im Wald auch die Ruhe an meinem Schreibtischstuhl finden kann. Auf den ersten Blick erscheint der Versuch nicht schwer: In den Wald hopsen, Gedanken verbannen und den Kopf stattdessen mit den Eindrücken im Wald zu füllen, und sich auf die Muße einstellen. Es ist mir aber dennoch schwer gefallen. Vielleicht liegt das an mir und dem Perfektionismus, der mich ins Zweifeln und Grübeln bringt, aber vielleicht fällt es uns allgemein schwerer, uns auf Momente der Muße und der Leere einzulassen. Ich gebe aber (noch) nicht auf. Ich habe gemerkt, welche Wirkung die scheinbar stillstehende Zeit, die Fülle und gleichzeitige Leere des Waldes, auf mich haben können. Von den nächsten Spaziergängen im Wald erhoffe ich mir, dass ich lernen kann, das Tun sein zu lassen und stattdessen einfach nur zu sein.
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