Der Student Walter Stegmüller lacht in die Kamera. Seine Bundesbrüder, acht junge Männer in Anzug, Krawatte und Couleurband, haben sich um ihn versammelt. Einer legt ihm von hinten die Hand auf die Schulter. Ein anderer prostet ihm mit erhobener Bierflasche zu. Auf einem kleinen Holztisch lagern die leeregetrunkenen Flaschen, die ein Blätterkranz und ein daran festgebundenes Band verdecken. Darauf steht: „Dem König des Zufalls, Walter Stegmüller, in Ergebenheit gewidmet, Freiburg, 22. November 1911“

Vor 113 Jahren war der von seinen Kommilitonen gefeierte Walter Stegmüller der 3.000te Student, der sich an der Uni Freiburg eingeschrieben hatte. Der Prorektor verlieh ihm eine goldene Uhr und ehrte das neue Universitätsmitglied mit einem Festzug durch die Stadt, bei dem die Menschen den jungen Studenten mit Blumen und Beifall begrüßten.

„Es ist ihm wohl etwas zu Kopf gestiegen”, sagt Valerie Möhle, Koordinatorin des Uniseums, dem Museum der Uni Freiburg, „denn eines Abends hat er im Rausch einen Schutzmann geschlagen.” Zur Strafe kam er drei Tage in den Unikarzer.

Walter Stegmüller brachte dies unter Kommilitonen den Titel “König Zufall” ein. Denn er war nicht nur der 3.000te Student der Uni Freiburg sondern auch der erste Student, dem die Ehre zuteilwurde, in die neu im Kollegiengebäude I eingerichtete Arrestzelle der Uni Freiburg einzuziehen – den sogenannten Winterkarzer. An dessen Wänden hinterließ er ein ganzes Gedicht, in dem er seine kurze Haftzeit preist, auf die er wohl stolz war: „Nun ist es Herbst, es braust der Sturm, jetzt um den stillen Karzerturm. Mein Schicksal war’s auf Erden, der Erste drin zu werden.”

Die Uni hatte eigene Gesetze und Arrestzellen

Unis besaßen bis Ende des Kaiserreichs noch Gefängniszellen, weil sie über eine eigene Gerichtsbarkeit verfügten. Bei Verstößen gegen die unieigenen Regeln wurden Studenten für mehrere Tage darin inhaftiert.

In den Vorschriften für preußische Hochschulen von 1879 werden als strafwürdige Delikte etwa folgende genannt: „Hohes oder unerlaubtes Spielen oder Wetten“, „Ehrenkränkungen unter Studierenden“, „Herausforderung zum Zweikampf“ oder auch „Unsittlicher Lebenswandel, Hingabe an den Trunk oder Erregung von öffentlichem Anstoß durch Trunkenheit.“

Im 19. Jahrhundert wurde den Universitäten ihre juristische Unabhängigkeit weitgehend aberkannt, aber sie behielten weiterhin die Disziplinargewalt über die Studenten. So diente der Karzer im 20. Jahrhundert noch zur Wahrung der Sitten und des Anstands an der Universität. Ein Disziplinarbeamter sorgte für Ordnung und verurteilte Studenten zu einer Art Nachsitzen im Kerker, wenn sie über die Stränge schlugen.

Die Karzer der Uni Freiburg waren jedoch nur in den Jahren von 1911-1920 aktiv in Benutzung. In der Weimarer Republik wurde die Verbüßung der Strafe im Kerker endgültig abgeschafft.

“Seit Ende des 19. Jahrhunderts war die Karzerhaft eher eine Disziplinarstrafe, die unter den Studenten mehr als Auszeichnung und weniger als eine Strafe angesehen wurde”, sagt Timo Rachel, Mitarbeiter des Uniseums, bei einer Führung durch die Karzerräume. Heute im Jahr 2024 sind diese Strafen natürlich alle abgeschafft. Eingesperrt werden Studierende heute nicht mehr. Im Gegenteil: „Heutzutage bleibt der Uni in schweren Fällen nur noch die Exmatrikulation“, sagt Timo Rachel.

Einen Karzer, wie er zu Zeiten Walter Stegmüllers existierte, können Interessierte nur noch bei angemeldeten Uniseumführungen besuchen. Sowohl der Winter- als auch der Sommerkarzer sind noch gut erhalten.

Im 3. Stock des Kollegiengebäude I gelangt man über eine Treppe in den Winterkarzer. Er befindet sich in dem Turm mit der goldenen Uhr und der grünlichen Kupferkuppel, die die Dächer der Universität überragt. Etwas höher im Turm liegt der Sommerkarzer, durch dessen Fenster man in Richtung Schlossberg schaut.

Kneipenabende unter Freunden

Der erste Blick in den Winterkarzer überrascht: In einem circa 13 Quadratmeter großen Raum stehen ein Bett, ein Schrank, ein Tisch und es gibt sogar eine Heizung. Kleine Fenster spenden dem Zimmer ein angenehmes Licht und beim Blick nach draußen hat man eine herrliche Aussicht über die Stadt. Was mehr nach einem Freiburger Studi-Zimmer in bester Lage klingt, war einst das Uni-Gefängnis Anfang des 20. Jahrhunderts.

Timo Rahel zufolge konnte der Winterkarzer sogar beheizt werden. Rahel verweist während der Führung auf Gert Hahne, der zu Historie von Universitätsgefängnissen forschte und die These aufstellte, dass die Karzer sogar als Erholungs- und Rückzugsstätten vom täglichen Verbindungsleben genutzt wurden und der ruhigen Examensvorbereitung dienten.

Dass Studenten die Karzerhaft als eine reizvolle Herausforderung betrachteten, ist demnach kaum verwunderlich. War man einmal drin, dauerte die Karzerhaft meist ein paar Tage an. Die Studenten durften die Vorlesungen aber trotzdem besuchen, auch wenn sie im Karzer saßen.

„In der Karzerordnung steht unter anderem, dass geistige Getränke, also Alkohol, verboten sind und Besuch von Kommiliton*innen nur in dringenden geschäftlichen Fällen und unter Genehmigung gestattet sind“, sagt Rachel.

Diese Regel konnte ein Insasse aber durch Bestechung leicht umgehen. So machten manche aus einer einsamen Nacht im Kerker schnell einen Kneipenabend unter Freunden. Es soll sogar Studenten gegeben haben, die an einem Seil Bierkästen in den Karzer hochgezogen haben.

Die inhaftierten Studenten ließen es sich nicht nehmen, auch die Karzerwände mit Parolen und Sprüchen zu bemalen. Man durfte sich dabei nur nicht erwischen lassen.

Zahlreiche Zeichnungen von Verbindungen verraten, wer dort einst zur Strafe gesessen hat. Manche haben ihren Namen und ihre Haftzeit in eine Ecke auf die Wand gekritzelt. Aber auch aufwendige Malereien sind während der Inhaftierung entstanden: Die Wände des Sommerkarzers ziert ein restaurierter Bildfries, der ein ideales Männerleben um 1900 erzählt: Die erste Szene zeigt einen kleinen Jungen, der mit einem Holzreifen spielt. Später ist er als junger Mann auf Festen zu sehen, beim Kartenspielen, in einer Bar oder beim Fechtduell mit einem gegnerischen Korporierten – einem Studenten, der ebenfalls in einer Verbindung ist. Auch mit einem Schutzmann legt er sich an.

So landet er im Karzer. Auf der Abbildung steht er auf einem Schemel, um aus den weit oben liegenden Fenstern des Gefängnisturmes auf den Schwarzwald schauen zu können. Der Maler des Bildfrieses, ein Freund des ersten Insassen im Sommerkarzer, lässt die Lebensgeschichte in anständiger Tradition enden: Der Student besucht schließlich auch die Vorlesungen, bekommt seinen Doktorhut aufgesetzt und findet Beruf und Familie. Als „Alter Herr“ bleibt er seiner Verbindung treu.

Frauen wurden nie zu einer Karzerstrafe verurteilt

In Freiburg dürfen Frauen seit dem Jahr 1899 studieren. Freiburg war somit die erste Uni Deutschlands, die Frauen Zugang zur Hochschulbildung bot. Dem Karzer stattete jedoch keine einzige Frau je einen Besuch ab.

„Das ist wahrscheinlich auch nicht verwunderlich, wenn man sich vor Augen führt, was für ein Kampf es für Frauen war, überhaupt studieren zu können”, sagt Rachel. Während unter den männlichen Verbindungsstudenten getrunken und gerauft wurde, konnten Frauen nicht riskieren, in solch einer Weise negativ an der Uni aufzufallen. Rachel geht davon aus, dass die Strafe vermutlich anders ausgefallen wäre. „Saufen und Prügeln unter Studentinnen wäre gesellschaftlich vermutlich nicht toleriert worden”, sagt er.

Ein Pilgerort für Verbindungen

In den heutigen Karzerräumen sind noch die restaurierten Wappen und Zeichen der Studentenverbindungen, die sogenannten Zirkel, an den Wänden zu sehen. Daneben steht meistens ihr Panier, eine Art Schlachtruf, geschrieben oder ein stolzes Bekenntnis zum Delikt, das einem die Karzerstrafe eingebracht hatte.

Bei Verbindungsstudierenden weckt der Ort auch heute noch Interesse. „Es gibt regelmäßig Studentenverbindungen, die Karzerführungen buchen”, sagt Rachel. 2022 stand auch bei der Freiburger Hercynia der Karzerbesuch auf dem Semesterprogramm. „Dass Walter Stegmüller einer von ihnen ist, macht die Herren natürlich stolz“, sagt Valerie Möhle.

In dem Gedicht, das Walter Stegmüller als erster Karzerinsasse auf der Mauer hinterlassen hat, richtet er sich poetisch an seine zukünftigen Nachfolger: „Mein Schicksal wars auf Erden der erste drin zu werden. Wie mir, so mög es allen, nach mir einst hier gefallen.”

Der Freiburger Uni-Karzer
Bildfries im Sommerkarzer: Der Student in einer American Bar am Tresen. Es kommt zum einem Konflikt mit einem Schutzmann.
Bildfries im Sommerkarzer: Der Student in der Vorlesung mit dem Professor am Pult. Schließlich erhält er die Doktorwürde.
Das Gedicht des Studenten Walter Stegmüllers im Winterkarzer.
Möbel im Sommerkarzer
Bildfries im Sommerkarzer: Verbindungsstudenten im Fechtkampf mit einer gegnerischen Verbindung.
Bildfries im Sommerkarzer: Ein Student stellt sich auf einen Stuhl, um aus den Karzerfenstern auf die Dächer Freiburgs blicken zu können.
Blick auf das nächtliche Freiburg von der Spitze der Uniturms
Verbindungswappen und Schlachtruf der Freiburger Hercynia im Winterkarzer.
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