Herr Dr. Obrecht, Sie forschen an der Uni Freiburg unter anderem zum Regierungssystem Frankreichs und Deutschlands. Wie würden Sie die aktuelle politische Lage in Frankreich beschreiben?

Mit einem Wort: Durcheinander.

Warum?

Emmanuel Macron hat die französische Nationalversammlung aufgelöst, nachdem seine Partei bei den Europawahlen verloren und der Rassemblement National mit weitem Abstand gewonnen hatte. Warum er das Parlament aufgelöst hat, ist ein bisschen rätselhaft. Es gab keine politische Notwendigkeit.

Macron hat für diese Entscheidung Gründe hervorgebracht, die symbolischer Art sind. Er wolle die Verhältnisse klären und wissen, ob die Wähler tatsächlich der Meinung sind, dass jetzt der rechte Rassemblement National die Regierung bilden soll.

Hat Macron mit den Neuwahlen nicht riskiert, dass der Rassemblement National wie bei der Europawahl wieder die stärkste Partei wird?

Der Präsident hat mit dem sogenannten republikanischen Reflex kalkuliert. Das bedeutet: Im ersten Wahlgang wählen die Franzosen nach dem Herzen, im zweiten nach der Vernunft.

In den letzten Jahren war die Vernunftwahl eben dieser republikanische Reflex. Alle demokratischen Parteien haben sich zusammengeschlossen, um zu verhindern, dass die extreme Rechte an die Macht kommt.

Dieses Bündnis linker Parteien, der Nouveau Front Populaire, die „Neue Volksfront“, hat im zweiten Wahlgang die meisten Mandate erhalten. An zweiter Stelle steht die Parteienallianz der Liberalen von Macron. Ist der Rassemblement National der Verlierer der Parlamentswahlen?

Das kann man eigentlich nur im Blick auf die Anzahl der Mandate sagen, von denen der RN im Vergleich zu den anderen Blöcken am wenigsten errungen hat.

Aber wenn man auf die Wählerzahlen schaut, dann ist doch deutlich, dass im ersten und im zweiten Wahlgang der RN an erster Stelle kommt. Sie haben tatsächlich jeweils die meisten Wähler auf sich gezogen.

Der RN hat die meisten Stimmen erhalten, aber die Wahl trotzdem nicht gewonnen. Wie erklärt sich das?

In Frankreich zwingt das romanische Mehrheitswahlrecht die Parteien zur Bildung von Wahlbündnissen. Wenn man eine Chance haben will, gewählt zu werden, muss man schon bei der Wahl eine Art Koalition mit anderen politischen Kräften eingehen, die ähnliche Programme vertreten. Da sind Parteien benachteiligt, die nicht koalitionsfähig sind wie der RN.

Deswegen kam er auch nicht so richtig zu Mandaten, bis er 2022 einen Durchbruch mit einem starken Stimmenzuwachs hatte. Obwohl nicht koalitionsfähig, konnte der RN bei der vorgezogenen Wahl 2024 vergleichsweise viele Mandate erlangen.

Wie unterscheidet sich dieses Wahlsystem zur deutschen Bundestagswahl?

In Deutschland haben wir ein Mischsystem, das personalisierte Verhältniswahlrecht. Es kombiniert Elemente der Mehrheitswahl und der Verhältniswahl. Man wählt mit der ersten Stimme einen Wahlkreiskandidaten, der mit der relativen Mehrheit gewinnt. So kommt die Hälfte der Abgeordneten im Bundestag zustande. Die andere Hälfte wird über die Zweitstimme und damit über Parteilisten gewählt, die nach Bundesländern organisiert sind.

Dadurch ziehen auch Abgeordnete von Parteien ins Parlament ein, die keinen Wahlkreis gewinnen konnten. Bei der letzten Bundestagswahl 2021 hat beispielsweise die FDP keinen einzigen Wahlkreis gewonnen und ist trotzdem im Parlament vertreten.

In Frankreich hat keine der drei großen Wahlallianzen eine absolute Mehrheit im Parlament bekommen. Regierungskoalitionen sind in Frankreich aber im Gegensatz zu Deutschland ein totales Novum. Warum lehnt man in der französischen Politik den Kompromiss ab?

Das ist eine politisch-kulturelle Tradition. In der Vierten Republik war die Parteienlandschaft im Parlament sehr zersplittert. Der damalige Premierminister Charles de Gaulle wollte dem entgegenwirken, als er 1958 zusammen mit dem Justizminister Michel Debré die Verfassung der Fünften Republik, die bis heute das politische System Frankreichs prägt, geschmiedet hat.

Diese extreme Zersplitterung der Parteienlandschaft sollte institutionell an Bedeutung verlieren. Zugleich war de Gaulle aber von der Parteiendemokratie nicht überzeugt. Paradoxerweise hat sich das französische Parteiensystem aber zu einem mehrheitsparlamentarischen System entwickelt. Im Parlament muss es also immer eine stabile Mehrheit von Parteienkonstellationen geben, die die Regierung unterstützen.

In Frankreich haben Parteien der Linken und der Mitte gegen Rechts zusammengearbeitet. Können auch in Deutschland demokratische Parteien sich gegen rechtsextreme Parteien zusammenschließen?

Das in Deutschland schwieriger, weil wir nur einen Wahlgang haben. Die Landeslisten werden in jedem Bundesland aufgestellt. Es gibt in dem Sinne keine Möglichkeit, wie in Frankreich eine republikanische Brandmauer gegen Rechts im Vorfeld der Wahlen aufzubauen. Die Parteien treten in Deutschland alle für Mandate an. Sie stehen dabei in Konkurrenz zueinander.

Im Falle Frankreichs wurde dieser Wettstreit ein Stück weit aufgehoben, weil sich etliche Kandidaten der Linken sowie Kandidaten aus dem Macron Lager zurückgezogen haben, um bei der Stichwahl im zweiten Wahlgang dem besser platzierten Kandidaten den Vortritt zu lassen. Dieser ist dann als stärkster Kandidat gegen den des Rassemblement National angetreten.

Bei der Europawahl hat die französische Rechte sehr gut abgeschnitten. Ihr Parteivorsitzender Jordan Bardella hat jetzt auch den Vorsitz der neuen EU-Fraktion „Patrioten für Europa“ inne. Obwohl sie viele rechte Parteien Europas vereint, haben sie die AfD nicht aufgenommen. Ist diese Ablehnung der AfD durch den RN ein deutsch-französischer Konflikt?

Nein, das wäre keine strategisch politische Ausrichtung gewesen, wenn es ein deutsch-französischer Konflikt gewesen wäre. Marine Le Pen hat das aber extrem geschickt gelöst.

Inwiefern?

Im Vorfeld der Europawahl hatte die AfD Probleme mit Maximilian Krah. Es hat sich herausgestellt, dass er keine gute Wahl für die Spitzenkandidatur war. Das hat Le Pen dazu ermutigt, die AfD aus der Fraktion rauszuwerfen.

Sie hat ihnen damit eine Retourkutsche erteilt: Die alte Europaabgeordneten der AfD hatten bei den französischen Präsidentschaftswahlen 2022 nicht Le Pens Partei Rassemblement National, sondern den noch rechter stehenden Eric Zemmour unterstützt. Le Pen wollte mit der Ablehnung der AfD auch zeigen, dass sich der Rassemblement National von der extremen Rechten abgrenzt, ein strategisch guter Zug.

Was bedeutet die politische Situation in Frankreich für die deutsch-französischen Beziehungen?

Dafür muss man nochmal auf 2017 schauen, wo Macron die Präsidentschaftswahlen gewonnen hat. Da hat sich ein großer Spielraum für die deutsch-französischen Beziehungen eröffnet, wie es auch in Macrons erster Rede an der Sorbonne-Universität Rede anklang.

In Deutschland ist die Politik jedoch kaum darauf eingegangen, obwohl Macron Angebote gemacht hat. Beim Ukrainekrieg etwa hätte man Lösungen für die Frage finden können, wie Europa seine Außenpolitik besser gemeinsam gestalten und bei seiner Verteidigung zusammenarbeiten kann.

Und wie steht es jetzt um das französische Verhältnis zu Deutschland nach den Wahlen 2024?

Macron ist jetzt eine „lahme Ente“, wie man im Rahmen der US-Politik sagt, wenn der Präsident die Mehrheit im Kongress verloren hat. Er hat einen Autoritätsverlust erlitten und es ist ihm kaum noch möglich viel zu steuern.

Im Parlament gibt es drei Blöcke und nur einer davon ist europafreundlich. Mit einigen Ausnahmen bei den Linksparteien, wo die Sozialisten mit Raphael Glucksmann europafreundlich sind.  Die extreme Linke und die extreme Rechte sind beide europakritisch und deutschlandfeindlich.

Warum stehen diese politischen Lager Deutschland kritisch gegenüber?

Beide aus vielleicht aus ähnlichen Gründen, wenn auch unterschiedlicher Provenienz. Deutschland hat die Forderungen der französischen Linken was das Budget, das Haushaltsrecht oder auch die Schuldenaufnahme auf europäischer Ebene betrifft, nicht aufgenommen.

Der Rassemblement National ist deutschlandfeindlich eingestellt, weil er die Kooperationsebene mit Deutschland kritisch sieht, insbesondere auch in verteidigungspolitischen Fragen. Le Pen will den Verteidigungshaushalt nicht mit den Deutschen teilen, sondern mehr auf die eigene französische Verteidigungsindustrie setzen.

Was wäre denn ein mögliches Szenario für die Regierungsbildung?

Der linke Block hat im Parlament die meisten Mandate und pocht deshalb auf das Recht, den Premierminister zu stellen. Diesem müsste es gelingen, eine Mehrheit der Abgeordneten hinter sich zu versammeln und dafür müsste sich die Linke zu den Parteien der Mitte öffnen. Das will sie aber nicht, weil ihre Programmatik eine andere ist.

Und wenn es zu keiner Einigung kommen sollte?

Entweder funktioniert es nicht oder der Linksblock spaltet sich auf. Dann würden Sozialdemokraten und Grüne sich mit der Mitte Macrons zusammenschließen. Das käme einer absoluten Mehrheit im Parlament zumindest näher.

Jetzt müsste man jemanden finden, der über den Parteien steht und diese Koalition zusammenhält, am besten eine Frau. Es gab bisher wenig Premierministerinnen. Eine Frau aufzustellen, wäre ein Autoritätsgewinn für diese Koalition.

Wie geht es denn jetzt den französischen Wähler*innen mit dieser Situation?

Bei den Wahlen ist nicht deutlich geworden, was die Wähler wollen, sondern eher, was sie eigentlich nicht mehr wollen: Sie haben Macron und seine Partei abgewählt. Aber womöglich werden die Franzosen genau diese wieder bekommen.