In vielen Köpfen herrscht ein verzerrtes Bild in Bezug auf sexualisierte Gewalt. Die plötzlichen und unerwarteten Überfälle von Fremdtätern* auf der Straße sind zwar ein ernstzunehmendes Problem, aber nicht unbedingt die häufigsten Übergriffe. Vielleicht ist die Vorstellung eines hinter einem Busch lauernden Mannes, der sich auf junge Frauen stürzt, durch mediale Bilder fest verankert. Sexualisierte Gewalt hat aber viele Gesichter. Ihre Ausübung verläuft zu Beginn oft schleichend und die Täter gehören häufig zum nahen oder erweiterten sozialen Kreis der weiblichen Opfer. Dies belegt eine umfassende Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, nach der 14,5 Prozent der Täter den betroffenen Frauen unbekannt ist und dagegen etwa 70 Prozent aller Fälle von sexualisierter Gewalt durch den (Ex-)Partner, Freunde, Nachbarn und Bekannten erlebt wurden.
Die sogenannten Sexual-Consent-Kampagnen mit dem Slogan „Nein heißt Nein“, haben diese etwas „subtilere“ Form einer Vergewaltigung oder eines sexuellen Übergriffs in die öffentliche Diskussion platziert. Das Video, das unter den Namen „Tea Consent“ durch Youtube kursiert und zu diesen Aufklärungskampagnen gehört, vergleicht nicht-einvernehmlichen Sex mit einer ungewollten Einladung zum Teetrinken. Das etwa dreiminütige Video weist mit sarkastischem Ton darauf hin, dass es sich bei einvernehmlichen Sex um ein einleuchtendes Konzept handelt, über das jedoch lange in Debatten immer wieder diskutiert wurde.
Sexualisierte Gewalt ist ein Phänomen, das sich durch alle Gesellschaftsschichten zieht und Frauen jeglichen Alters betrifft. Auch wenn die Angst vor einem abrupten Überfall auf der Straße etwas verzerrt sein mag, ist sie trotzdem real und ernst zu nehmen. Eine repräsentative Umfrage von Infratest Dimap ergab, dass 62 Prozent aller befragten Frauen prinzipiell bestimmte Parks oder Straßen am Abend meiden und 29 Prozent bei Dunkelheit das Haus nicht verlassen.
Viele Betroffene sind unter 25 Jahre alt
Sexualisierte Gewalt ist eine Formulierung, die den Machtcharakter eines sexuellen Übergriffs in den Vordergrund rücken soll. Somit ist eine Vergewaltigung oder eine sexuelle Nötigung ein bewusster Mechanismus der Unterdrückung. Sexualisierte Gewalt ist also nicht als unkontrollierbare Befriedigung eines sexuellen Impulses, im Sinne eines „Ausrutschers“, sondern als eine Form von Gewaltausübung zu verstehen.
Laut der polizeilichen Kriminalstatistik werden täglich im Durchschnitt 20 Vergewaltigungen und sexuelle Nötigungen in Deutschland angezeigt. 55 Prozent aller Frauen, die sich an die Freiburger Frauenberatungsstelle „Frauenhorizonte“ wenden sind unter 25 Jahren – „darunter auch viele Studentinnen“, sagt Claudia Winker, Leiterin der Beratungsstelle Frauenhorizonte. Sexuelle Übergriffe zwischen Kommilitonen und Kommilitoninnen seien kein seltener Fall. Auch in asymmetrischen Macht-Konstellationen innerhalb der Universitäten spiele sich sexualisierte Gewalt ab.
Winker beschreibt ein typisches Fallbeispiel von einem sexualisierten Übergriff in Freiburg folgendermaßen: An einem Samstag zieht eine größere Freundesgruppe abends von Bar zu Bar. Es wird viel getrunken und ausgelassen getanzt. “Oft werden Kampagnen gegen KO-Tropfen initiiert, dabei ist eigentlich Alkohol die wirkliche „Vergewaltigungsdroge““, sagt Winker während sie die fiktive Geschichte schildert.
Die Gruppe teilt sich langsam auf und es kommen andere neue Bekannte dazu. Die engen Freunde und Freundinnen der Betroffenen haben sich verabschiedet und es bildet sich eine neue Konstellation auf der Party. Der Alkoholpegel ist mittlerweile ziemlich hoch. Dann begleitet einer der Bekannten die Frau auf dem Weg nachhause. Die Situation kippt. Was als freundschaftliches Weggehen anfing wird zum gewalttätigen sexuellen Übergriff. Das Opfer kommt daraufhin völlig aufgelöst nachhause und weckt ihre Mitbewohnerin auf. Nach einer Weile platzt es aus der Betroffenen heraus. Daraufhin ruft die Mitbewohnerin die Frauenklinik an. In der Frauenklinik angekommen, wird nach Verletzungen und Infektionen geschaut.
Wird die Polizei informiert, sichert sie parallel Spuren wie blaue Flecken und Kratzer. Anschließend findet, wenn erwünscht, eine Vernehmung im Polizeirevier statt. Der ganze Prozess kann durch eine Frauenhorizonte-Mitarbeiterin begleitet und unterstützt werden und ist mit oder ohne Polizei möglich. Je nach Fall ist eine psychologische Begleitung für eine längere Zeit nach der Tat notwendig, denn viele Opfer von sexualisierter Gewalt leiden unter psychischen Folgen.
Auf Infrastrukturen achten und sich vernetzen
Was kann gegen sexualisierte Gewalt getan werden? Prävention fängt im Kleinen an. So ist es laut Winker wichtig, dass Freundeskreise soziale Verantwortung übernehmen und darauf bestehen, eine Person abends nachhause zu bringen, wenn sie zu viel getrunken hat. Sich vernetzen und aufeinander schauen seien wichtige Schutzfaktoren.
Wichtig sei auch, dass das Thekenpersonal für sexualisierte Gewalt sensibilisiert und geschult werde, so dass es eventuell eingreifen kann, wenn jemand augenscheinlich belästigt oder „abgefüllt“ werde. Die Kampagne „Luisa ist hier!“, ein Hilfsangebot das es in mehreren deutschen Städten gibt und im Laufe dieses Wintersemesters auch in Freiburg umgesetzt wird, hat die Codefrage „Ist Luisa hier?“ eingeführt, um Frauen in einer unangenehmen Situation die Bitte um Hilfe beim Theken- oder Sicherheitspersonal im Nachtleben zu erleichtern. Hinter der Idee steckt die Annahme, dass es vielen belästigten Frauen aus Scham schwer fällt, ihre Situation auszuformulieren.
Ein anderer wichtiger Punkt für Clubs und Bars ist der Toilettenbereich. Da in Toilettenkabinen eine beträchtliche Anzahl an sexualisierten Übergriffen stattfindet, meistens hier allerdings von Fremdtätern begangen, sollte ein Lokal auf die Infrastruktur solcher Bereiche besonders achten. Sind die Türen gut abschließbar? Sind die Kabinen so gebaut, dass man im Zweifelsfall Gerangel von außen mitbekommt? Das sind die Fragen, die sich Clubs und Bars stellen sollten, sagt Pia Kuchenmüller, die Zuständige für die Öffentlichkeitsarbeit von „Frauenhorizonte“.
Wachsendes Angebot für den Nachhauseweg
Auch die Kommunikationstechnik kann das Sicherheitsgefühl durch zahlreiche Angebote stärken. In einigen größeren Städten wurden mittlerweile Sammeltaxis eingeführt, die günstig sind und per Apps koordiniert werden. Das „Frauennachttaxi“ soll noch dieses Jahr nach Freiburg kommen und an Wochenenden und vor Feiertagen fahren.
In Berlin wurde das Heimwegtelefon 2014 gegründet, das von ganz Deutschland aus erreichbar ist. Hier können sich Menschen per Telefon melden, die eine „Begleitung“ wünschen, wenn sie auf dem Heimweg sind.
Neben dem Heimwegtelefon gibt es die sogenannten Heimbegleiter-Apps. Freunde und Freundinnen können sich hiermit gegenseitig anhand einer GPS-Funktion beim Nachhauseweg verorten. „Das ist natürlich die totale Überwachung“, sagt Winker. Letztendlich gehe es aber vor allem um ein persönliches Gefühl der Sicherheit. „Jede Frau sollte schauen, welche Handlungen ihr dieses Gefühl geben können.“
Ein weiteres Angebot ist die niederschwellige, vor kurzem eingeführte Online-Beratung, die „Frauenhorizonte“ auf Deutsch, Englisch und Arabisch anbietet. An diese können sich Frauen wenden, wenn ihnen beispielsweise das Verhalten eines Bekannten beim gemeinsamen Weggehen wiederholt suspekt vorkommt, weil sie sich beispielsweise von diesem bedrängt fühlen.
Taschenalarm hat große Wirkung
Sowohl Winker und Kuchenmüller als auch Frank Stratz vom Polizeipräsidium Freiburg sind der Meinung, dass ein Taschenalarm, der am Schlüsselband hängt und in einer Notsituation gezogen werde, ziemlich wirkungsvoll sein kann. Der Alarm kann bis zu 140 Dezibel erreichen und entspricht damit der Lautstärke eines Gewehrschusses. Das schafft im öffentlichen Raum sehr viel Aufmerksamkeit. Aber um selbst vor dem Ton nicht zu erschrecken, sollte dieses Gerät ein paar Mal ausprobiert werden.
Wichtig: Körpersprache und klare Ansagen
Stratz, der sich innerhalb des Polizeipräsidiums auf Gewaltprävention spezialisiert hat, betont, dass es hilfreich sei, eine Person, die jemanden über mehrere Straßen verfolgt, anzusprechen. Dies breche die Anonymität des potenziellen Täters auf. Gegebenenfalls könne beim Vorbeigehen ein kurzer Blick auf die verdächtige Person effektiv sein um anzudeuten: Ich habe dich wahrgenommen.
Wer spät in der Nacht auf dem Weg nachhause ist, sollte wachsam sein. „Kopf hoch, Kinn nach oben, aufrechter Gang, Hände sichtbar“, empfiehlt Stratz. Es gibt Studien, die belegen, dass die Körperhaltung eine extrem wichtige Rolle bei der Wirkung auf einen Täter spielt. Wenn es zu Handgreiflichkeiten komme, sei Schreien ein sehr effektives Mittel. Aber wie beim Üben von Kampftechniken, müsse man erst lernen, die Stimme wirkungsvoll einzusetzen. Im Schockzustand tendieren viele Menschen dazu, wie unter plötzlichem Scheinwerferlicht, zu erstarren. Wenn jemand in der Straßenbahn angefasst oder in der Nacht offensichtlich verfolgt wird, sei es gut der verdächtigen Person klarzumachen, dass man nicht damit einverstanden sei.
Dies bedeute beispielsweise die Hand auszustrecken und zu sagen: „Stopp, bleiben Sie stehen“, sagt Stratz. Zum einen sei das Siezen sinnvoll, weil Außenstehende merken, dass sich beide Personen nicht kennen und zum anderen sei es eine Geste, die auf eine persönliche Grenzüberschreitung hinweise. Wenn diese Geste gebrochen werde, befinde sich die belästigte Person, rechtlich gesehen, in einer Notwehr-Situation.
„Für einen Notwehr Tatbestand muss es zu keiner Berührung gekommen sein, allein der unmittelbar bevorstehende Überfall reicht für diesen rechtlichen Tatbestand aus“, sagt Stratz. Ab dann könne sich eine bedrohte Person im Grunde mit allen Mitteln wehren. Empfehlenswert sei, sich anhand rechtswissenschaftlicher Bücher und Webseiten über das Notwehrgesetz zu informieren, um sich den Handlungsspielraum als verteidigende Person besser erschließen zu können.
Es ist bedauerlich, dass Frauen einen Katalog mit Handlungsanweisungen bekommen, wobei die Schuld und das Problem offensichtlich beim Täter liegen. Wie schon in folgendem Tweet des Grünen-Politikers Sebastian Striegel – “Ich will nicht in einer Welt leben, in der Frauen ‚Verhaltensregeln‘ folgen müssen, um nicht Opfer sexualisierter Gewalt zu werden“ – herauszulesen ist, muss sich etwas Grundlegenderes in den Köpfen unserer Gesellschaft verändern. Die taz hat als Reaktion zum häufigen, unterschwelligen Victim-blaming einen sarkastischen Artikel mit einer Reihe an Verhaltensregeln für Männer veröffentlicht. Einer der Ratschläge lautet: „Schütte niemals KO-Tropfen in die Getränke von Frauen, um sie anschließend zu vergewaltigen.“
Präventionsvorschläge müssen nicht angenommen werden
Präventionsmaßnahmen dienen dazu, das Selbstvertrauen im öffentlichen Raum zu stärken und Menschen für jegliche Formen von sexualisierter Gewalt zu sensibilisieren. Frauen sollen abwägen welche Maßnahmen für sie angemessen sind und welche nicht. „Viele Frauen wollen sich nicht einschränken lassen, nur weil Männer übergriffig werden können, das kann ich absolut verstehen“, sagt Winker. Eine Frau, die alleine weggehe und sich gut dabei fühle, mache nichts falsch. Mit Tipps und Vorschlägen müsse also aufgepasst werden, denn eine Frau, die sie nicht annimmt, mache sich niemals dafür schuldig.
Sexualisierte Gewalt soll nicht weiter verschwiegen werden
Viele Betroffene, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, schämen sich. Deshalb sollen Frauen ermutigt werden, sich während und nach einem Angriff zu wehren. Darauf zielen unter anderem die Gewaltpräventions-Schulungen von Stratz und das Unterstützungsangebot von Frauenhorizonte ab. Sich zu wehren bedeutet hier zum Beispiel bei einer persönlichen Grenzüberschreitung laut zu werden oder im Nachhinein Anzeige zu erstatten.
Allerdings kann es bis zu zwei Jahre dauern, bis ein solcher Prozess abgeschlossen ist. Ein eingeleitetes Strafverfahren ist ein langwieriger Prozess und kann psychisch belastend sein. Eine Mitarbeiterin von Frauenhorizonte kann jedoch, nach Wunsch, den gesamten Strafprozess begleiten. Dies umfasst Schritte, wie die Kontaktaufnahme zu einem Anwalt oder einer Anwältin, die Besichtigung des Gerichtssaales oder die Begleitung während der Aussage vor Gericht.
Durch die nach und nach eingeführten Opferrechtsreformgesetze wurde die Situation der Opfer vor Gericht rechtlich gestärkt. Opfer von Straftaten können unter anderem einen Ausschluss der Öffentlichkeit an der Hauptverhandlung einfordern und haben den Anspruch auf kostenlose psychosoziale Prozessbegleitung. Außerdem wurde 2016 das Sexualstrafrecht reformiert und somit ist die Politik dem Ausdruck „Nein heißt Nein“ gerechter geworden.
Die gemeldeten Fälle bei „Frauenhorizonte“ sind in den letzten Jahren angestiegen. Winker, Kuchenmüller und Stratz gehen aber davon aus, dass nicht die tatsächliche Zahl sexualisierter Überfälle gestiegen ist, sondern unsere Gesellschaft weniger bereit ist, solche Taten hinzunehmen. Täter profitieren bis jetzt von ihrer Anonymität. Dies bedeutet für Stratz allerdings nicht, dass die Betroffenen den Namen des Täters nicht kennen. Vielmehr bedeute es, dass der Täter damit rechne, dass sich das Opfer nicht offenbaren werde. Diese Spirale solle aber durchbrochen werden, um Nachahmungstäter zu vermeiden und klarzustellen, dass sexuelle Übergriffe, egal ob im Nachtleben, in der Straßenbahn, am Arbeits- und Ausbildungsplatz oder an der Universität nicht mehr weiter toleriert und hingenommen werden.
Hinweis: In diesem Beitrag wird ausschließlich von männlichen Tätern und von sexualisierter Gewalt betroffenen Frauen geschrieben, auch wenn diese Rollenverteilung durchaus anders sein kann, ist sie statistisch gesehen der häufigste Fall.