Ja, ich gebe es zu, auch ich habe am Anfang gesagt: Das ist doch alles gar nicht so schlimm, wie eine normale Grippe, die haben wir auch jedes Jahr – alles nur Panikmache. Mittlerweile habe ich meine Meinung aber geändert. Weil sich die Situation verändert hat.
Nur weil wir Studierenden das Privileg besitzen, im meisten Fall nicht zur Risikogruppe zu gehören, heißt das nicht, dass für unser Verhalten nicht auch ändern sollten.
Schulen, Kindergärten, Geschäfte, Kultureinrichtungen, Schwimmbäder, Fitnessstudios, die meisten Restaurants, die die strengen Auflagen nicht erfüllen, werden vorübergehend geschlossen. Vereine sagen das Training und Punktspiele ab. Diese Maßnahmen wurden ergriffen, damit sich die soziale Interaktion von jedem nur noch auf ein Minimum beschränkt. Wenn aber die Kreisliga aus Hintertupfingen beschließt, ein inoffizielles Training mit der ganzen Mannschaft stattfinden zu lassen, erfüllen die Maßnahmen nicht ansatzweise das gewünschte Ziel.
Ich gehöre nicht zur Risikogruppe, und trotzdem halte ich mich an die Vorgaben, die sich hinter dem Begriff „Social Distancing“ verbergen.
Warum? An Italien sehen wir, wie wichtig es ist, das Tempo der Verbreitung einer Epidemie zu verlangsamen. In Norditalien sind die Intensivstationen am Limit. Schon längst wird kein Unterschied mehr gemacht zwischen Chirurgen, Urologen oder Orthopäden. Sie alle versuchen nur noch, gegen die aktuelle Situation anzukämpfen. Die Gesellschaft der italienischen Anästhesisten und Intensivmediziner veröffentlichte jetzt sogar Empfehlungen, welche Patienten behandelt werden sollten und welche abgewiesen werden sollten – weil nicht mehr ausreichend Beatmungsgeräte zur Verfügung stehen. Die Patienten, bei denen der „größtmögliche therapeutische Erfolg“ besteht, werden bevorzugt behandelt. Es findet eine Selektion statt – Menschenleben sind nicht mehr gleich viel wert.
Noch sind die Zahlen in Deutschland nicht so hoch wie in Italien. Aber das Virus breitet sich bislang exponentiell aus – das heißt, dass sich auch hier in wenigen Wochen Zehntausende anstecken können.
Das ist keine Panikmache, das ist der aktuelle Stand der Wissenschaft. Der Virologe Christian Drosten hat vor einigen Tagen gesagt, dass sich 60-70 Prozent der deutschen Bevölkerung mit dem Virus anstecken wird. In dieser Zahl steckt allerdings viel mehr. Virologen beschäftigen sich in einem ersten Schritt damit, herauszufinden, wie ansteckend ein Virus ist. Das führt zur sogenannten „Basisreproduktionszahl R0“. Diese Zahl ist ein Maß dafür, wie viele ein einzelner Infizierter im Durchschnitt ansteckt, solange nichts unternommen wird. Verschiedene Studien gehen momentan davon aus, dass R0 zwischen 2 und 3 liegt – jeder Infizierte gibt das Virus also an 2 bis 3 andere Menschen weiter – im Durchschnitt.
Diese Basisreproduktionszahl hängt auch davon ab, auf wie viele andere Menschen ein Infizierter trifft. In der Secondary Attack ist diese Variable berücksichtigt. Sie gibt an, wie viele Menschen, die sich infiziert haben könnten, tatsächlich infiziert haben. Hat also ein Infizierter bei einer Karnevalsfeier Kontakt mit 200 Menschen und 20 stecken sich an, beträgt die Secondary Attack Rate 10 Prozent.
Ganz klar ist: Je mehr Menschen ein Infizierter trifft, desto mehr können sich auch anstecken. Würde jeder Infizierte nur eine andere Person infizieren, bliebe die Zahl konstant. In diesem Fall würde man von einer Endemie sprechen. Malaria ist ein Beispiel für eine endemische Krankheit, die in vielen afrikanischen Ländern konstant hoch ist.
Sobald die Basisreproduktionszahl aber höher als 1 ist, wächst die Zahl der Erkrankten exponentiell. Wenn 1 Infizierter jetzt 2 weitere ansteckt, sind schon 3 weitere Menschen infiziert. Diese neu erkrankten Menschen stecken wieder jeweils 2 Mitmenschen an, sodass dann insgesamt schon 7 Menschen erkrankt sind. Mit jeder neuen Ansteckung wächst die Geschwindigkeit der Ausbreitung der Krankheit. Einige Mathematiker freuen sich vielleicht gerade insgeheim: Ein theoretisches Phänomen, das man endlich in der Realität erlebt! Am Anfang einer Epidemie nimmt die Ausbreitung nur sehr langsam zu. Deshalb ist es einfach, sie zu unterschätzen – wie ich es auch gemacht habe. Ne einfache Grippe eben.
In diesem Fall ist die „Epidemic Doubling Time“ ein wichtiger Begriff. Er beschreibt die Zeit, die es braucht, bis doppelt so viele Menschen infiziert sind. In Deutschland liegt diese Zahl aktuell bei 3,7 Tagen. Der aktuelle Trend zeigt an, dass das Tempo momentan langsamer wird (Stand 18.03.2020, 10 Uhr).
Damit diese Kurve abflacht und folglich die Verdopplungsrate vergrößert wird, muss die Zahl derer, die einzelne Kranke durchschnittlich anstecken, unter 1 liegen. Bei dem neuen Corona-Virus liegt diese Zahl aber bei durchschnittlich 2-3 Personen. Das heißt also, dass circa 60 Prozent der Ansteckungen verhindert werden müssten.
Wo wir wieder beim Thema wären: Das kann nur erreicht werden, indem sich jeder daran beteiligt, das fancy-klingende Wort „social distancing“ durchzusetzen. Klar bedeutet das Einschränkung für jeden. Aber es bedeutet auch, Verantwortung zu übernehmen.
Gerade sieht es bei uns noch gut aus: Wir haben rund 100.000 freie Krankenhausbetten, und 28.000 Plätze auf Intensivstationen, so Reinhard Busse, Professor für Gesundheitsmanagement an der Technischen Fakultät in Berlin. Ganz grob geht Busse davon aus, dass jeden Tag 2.000 Covid-19 Patient*innen behandelt werden könnten. Aber es hängt nicht nur an Krankenhausbetten: Entscheidend ist auch die Versorgungskapazität – gibt es überhaupt genügend Personal, um alle Menschen zu betreuen? Vorausgesetzt natürlich, das Personal bleibt selbst gesund.
Es hängt also an vielen Faktoren, ob das deutsche Gesundheitssystem mit dieser Herausforderung fertig wird. Aber einen Faktor kann eben jeder einzelne beeinflussen: Sein gesellschaftliches Leben auf ein Minimum herunterfahren. Denn wie wir uns jetzt verhalten, ist entscheidend, wie die Verbreitung des Virus weiter verläuft.
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