Der Anteil der Studierenden mit einer chronischen Erkrankung beträgt, laut der 21. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks, 11 Prozent. Hiervon gab fast die Hälfte der befragten Studierenden an, von einer psychischen Erkrankung betroffen zu sein. „Der Löwenanteil der Studierenden leidet hierbei unter Depressionen“, erklärt Beate Massell, Beauftragte für Studierende mit Behinderung oder chronischer Erkrankung der Universität Freiburg.
Betroffene würden sich meist in ähnlichen Symptomen des Krankheitsbildes wiedererkennen, wie sozialer Rückzug, Antriebslosigkeit, Konzentrationsschwäche und Müdigkeit. Gleichzeitig gäbe es jedoch auch viele individuell unterschiedliche Ausprägungen.
„Einer ganzen Vorlesung zu folgen fällt mir schwer“
Dass das Universitätsleben für die meisten Studierenden einen Stressfaktor darstellt – vor allem in Prüfungsphasen – ist unumstritten. Studierende mit der Diagnose Depression sind dabei mit zusätzlichen Herausforderungen konfrontiert. Diese reichen von der Organisation des Unialltags und der Einhaltung von Prüfungsfristen, bis hin zur Gestaltung des Privatlebens.
„Einer ganzen Vorlesung zu folgen fällt mir schwer“, sagt Nils, Lehramtsstudent im 12. Semester. Das läge auch an der medikamentösen Behandlung, die oft mit Depressionen einhergeht. Häufige Nebenwirkungen von Psychopharmaka sind unter anderem Konzentrationsschwäche und Müdigkeit. In einer depressiven Phase seien selbstorganisiertes Lernen, der Abruf von Leistungen sowie die Strukturierung des eigenen Tagesablaufs oft sehr anstrengend.
Melanie studiert Skandinavistik im 10. Semester und war mit Ende 20 aufgrund ihrer Erkrankung in stationärer Behandlung. Häufig empfindet sie es als große Herausforderung, sich in depressiven Phasen auf die Außenwelt einzulassen und schafft es somit oft nicht, an Seminaren und Vorlesungen teilzunehmen: „Wenn man sowieso das Bedürfnis hat, sich zurückzuziehen, ist es sehr schwierig, die Anwesenheitspflicht zu erfüllen.“ Fast alle Depressiven kämpfen damit, sich nicht zu isolieren und von ihren Mitmenschen abzugrenzen, obwohl das Verlangen danach stark ist. Bei diesem Symptom schlägt Beate Massell jedoch Alarm: „Die Isolation und das Vernachlässigen der sozialen Kontakte verstärken die Depression ungemein.“
Je früher man sich Hilfe sucht, desto besser
Da sich viele Betroffene die Erkrankung lange nicht eingestehen können, versuchen sie, so lange wie möglich durchzuhalten und nehmen aus diesem Grund Beratungsangebote nicht in Anspruch. Sabine Weiß, Sozialarbeiterin der Universitätsklinik Freiburg, hat festgestellt: „Somit suchen viele erst dann Hilfe, wenn es schon zu spät ist – beispielsweise, wenn sie bereits durch die zweite Prüfung gefallen sind.“ Ein Grund dafür, dass Menschen mit Depressionen sich lange gegenüber Hilfsangeboten versperren, sei die Angst vor dem Outing, welches mit viel Scham verbunden sei. Jedoch sei eine Depression nachweislich besser behandelbar, wenn man sich früh genug Hilfe hole.
Ein geregelter Tagesablauf kann helfen
Die Geschichtsstudentin Chiara ist davon überzeugt, dass man es nicht alleine schafft: „Man muss auf jeden Fall um Hilfe bitten, denn ohne diese kommt man in der Regel nicht damit klar.“ Sie selbst hat schon vor Jahren von der Diagnose erfahren und hat es durch Unterstützung von Ärzten und Sozialarbeitern geschafft, ihr Studium gut zu bewältigen.
Unterschiedliche Bewältigungsstrategien wie individuelle Absprachen mit den Dozierenden, falls eine Prüfungsleistung nicht im geforderten Rahmen erbracht werden kann, ein gesunder Schlafrhythmus und eine geregelte Tagesstruktur helfen den betroffenen Studierenden im Alltag.
Melanie hat gelernt, sich ihre Aufgaben besser einzuteilen, um extreme Stresssituationen zu vermeiden: „Wenn man sich zu viel Stress aufgeladen hat, muss nur eine Kleinigkeit passieren und man gerät in eine depressive Phase. Man muss schauen, dass man noch Kapazitäten hat, um Stresssituationen abfangen zu können. Aus diesem Grund ist die Gestaltung der Freizeit genauso wichtig wie die des Uniplans.“
Ebenfalls helfe es, der Tabuisierung und Stigmatisierung der Thematik entgegenzuwirken, indem man versuche, offen mit der Diagnose umzugehen. Alle drei wünschen sich einen aufgeklärteren Umgang mit psychischen Erkrankungen. Dies beinhalte nicht nur die Sensibilisierung von Lehrpersonal, wie Chiara es fordert, sondern auch die Flexibilisierung von Prüfungsordnungen und -abgaben, wie es sich vor allem Nils wünscht.
Des Weiteren raten die drei, dass man nicht zu sehr mit sich ins Gericht gehen soll, da eine Depression kein persönliches Versagen, sondern eine Erkrankung sei, die jeden treffen könne. Wichtig sei es vor allem, die Erkrankung nicht mit sich selbst ausmachen zu wollen, sondern sich frühestmöglich Hilfe zu holen. Auch Nils ist davon überzeugt, dass eine Depression heute kein Grund mehr zum Verzweifeln und vor allem kein Grund zum Studienabbruch ist.
Chiara, Nils und Melanie* erzählen von ihrer Erkrankung und ihren Erfahrungen
Chiara, Lehramt Deutsch und Geschichte, 12. Semester
„Die Diagnose der Depression hatte ich schon vor Beginn meines Studiums, ich bin auch schon länger in ärztlicher und medikamentöser Behandlung. Durch meine Medikamente bin ich morgens immer sehr müde und schaffe es deshalb oft nicht, aufzustehen und in die Uni zu gehen. In einer depressiven Phase ist es auch unglaublich schwer, sich zu konzentrieren.
Ich habe mich bewusst dazu entschieden, all meinen Dozierenden meine Erkrankung mitzuteilen, da es vorkommen kann, dass ich Leistungen durch die Erkrankung nicht fristgemäß abgeben kann. Hierbei habe ich durchweg gute Erfahrungen gemacht, da die meisten Dozierenden sehr verständnisvoll waren. Wenn ich eine Leistung nicht erbringen konnte, handelte ich mit meinen Dozierenden individuell aus, wie ich diese ausgleichen konnte. Dies konnte in Form eines Essays oder der Vorlage meiner Vorbereitungsnotizen geschehen.
Privat gehe ich nicht so offen mit meiner Diagnose um, da ich schon einige schlechte Erfahrungen gemacht habe und auf Ablehnung gestoßen bin. Aus diesem Grund hat sich eine gewisse Grundangst entwickelt, die unheimlich schwer zu überwinden ist. Auch fällt es mir häufig schwer, die Depression mit meinem Anspruch an mich selbst unter einen Hut zu bekommen. Dennoch habe ich gelernt, Rücksicht auf meine Erkrankung und mich zu nehmen. Ich würde mir wünschen, dass die Dozierenden aufgeklärter sind bezüglich Studieren mit Handicap und dass Handicap nicht bedeutet, dass man unbedingt im Rollstuhl sitzen muss.
Nichtsdestotrotz bin ich immer wieder positiv überrascht, wie offen viele Leute an der Uni auf die Diagnose reagieren. Aus diesem Grund ist es auch sehr wichtig, um Hilfe zu bitten, wie schwer es einem auch fällt, denn alleine kommt man damit in der Regel nicht klar.“
Nils, Lehramt Deutsch und Philosophie, 13. Semester
„Diagnostiziert wurde mir die Erkrankung noch während meines Studiums in Berlin. Zu dieser Zeit hatte ich auch meinen ersten Klinikaufenthalt. Als ich aus der Klinik entlassen wurde, bin ich nach Freiburg gezogen, um mein Studium dort fortzuführen.
Neben der psychotherapeutischen Behandlung bin ich auch medikamentös eingestellt. Durch die Medikamente fühle ich mich vor allem im Sport und meiner Konzentration eingeschränkt. Aus diesem Grund muss ich während Lernphasen auch häufiger Pausen machen als die meisten meiner Kommilitonen.
Die meisten Dozenten wissen nicht Bescheid. Ich erzähle ihnen das immer nur in Notsituationen – also wenn ich eine Verlängerung brauche während einer depressiven Phase. Aber ich sage das nicht von vorneherein, weil ich dazu keine Veranlassung sehe.
Wenn ich mich dann doch mal einem Dozenten anvertraut habe, da ich eine Leistung nicht erbringen konnte, war die Kooperationsbereitschaft immer sehr groß. Einige meiner Professoren waren sogar betroffen. Am schwersten während einer depressiven Phase fällt mir vor allem das selbstorganisierte Lernen. Phasenweise ist es sehr schwer, sich aufzuraffen und in die Uni zu gehen.
Im Großen und Ganzen gehe ich offen mit meiner Erkrankung um, aber natürlich auch nicht zu offen. Ich schreie es nicht in die Welt hinaus, aber ich habe auch keine Angst, davon zu erzählen, wenn es irgendwie notwendig ist. Bis jetzt bin ich auch immer auf sehr positive und verständnisvolle Resonanz getroffen. Auch versuche ich im allgemeinen, Rücksicht auf mich und meine Erkrankung zu nehmen, indem ich versuche ausgeruht zu sein, Beziehungen und Hobbys zu pflegen oder meine Lernstrategien zu hinterfragen und zu optimieren.
Wünschen würde ich mich vor allem mehr Flexibilität von seiten der Uni und diversen Prüfungsämtern. Ebenfalls würde ich mir wünschen, dass es leichter ist, professionelle Hilfe zu bekommen. Häufig sind die Wartezeiten für einen Therapieplatz nämlich sehr lange und somit ist es sehr schwer, in Akutsituationen schnell Hilfe zu bekommen.
Dennoch kann ich anderen Betroffenen nur empfehlen, sich Vertrauenspersonen anzuvertrauen und sich an Beratungsstellen zu wenden. Es wird einfacher, wenn man davon erzählt. Mit ein bisschen Mut und Durchsetzungsvermögen sind Depressionen heute kein Grund mehr zu verzweifeln.“
Melanie, Skandinavistik und Germanistik: Deutsche Literatur, 10. Semester
„Mit Anfang 20 bekam ich die Diagnose der bipolaren Störung. Jedoch ist bei mir die Depression ausgeprägter, die schon im Jugendalter losging, aber lange nicht diagnostiziert wurde. Mit Ende 20 ging ich freiwillig in stationäre Behandlung, weshalb ich an der Uni ein Urlaubssemester beantragen musste.
Seit meiner Diagnose nehme ich auch Medikamente. Es kann jedoch sein, dass man nach einem passenden Medikament sehr lange suchen muss, da manche Präparate oft nicht helfen, sondern nur starke Nebenwirkungen auslösen.
Da man bei einer Depression von depressiven Denkstrukturen spricht, fällt mir in solch einer Phase der Leistungsnachweis häufig schwerer. In den eigenen Gedanken wird aus einer Mücke ein Elefant – nicht weil man sich da reingedacht hat, sondern weil es einfach wirklich in dieser Dimension da ist. Sich in solchen Phasen auf das ‚Außen‘ einzulassen ist unheimlich schwierig und es kostet viel Kraft.
Wenn ich eine Leistung in der vorgegebenen Zeit nicht erbringen kann, ist das weitere Vorgehen häufig mit dem Dozenten individuell aushandelbar. Beim Prüfungsamt ist dies jedoch oft schwieriger. Deshalb habe ich mir einen Schwerbehindertenausweis gemacht, da das Prüfungsamt dann an den Nachteilsausgleich* gebunden ist.
Auch habe ich mir im Laufe meiner Erkrankung gewisse Bewältigungsmöglichkeiten angeeignet. Zum einen plane ich mir immer genug Erholungsphasen während des Lernens ein. Auch achte ich auf eine geregelte Tagesstruktur und einen regelmäßigen Schlafrhythmus. Vor allem im Winter ist es sehr wichtig, oft rauszugehen, um genug Sonnenlicht zu erhalten. Auch das Treiben von Sport ist für mich eine wichtige Bewältigungsstrategie gegen eine depressive Phase. Doch das wichtigste ist, dass man sich nicht isolieren darf. Man muss rausgehen und Kontakt mit seinen Mitmenschen aufbauen.
Offen bin ich meist nur gegenüber den Menschen die mir nahestehen. Obwohl ich finde, dass in letzter Zeit die öffentliche Akzeptanz bezüglich psychischer Erkrankung gestiegen ist, finde ich nach wie vor, dass die Stigmatisierung immer noch viel zu hoch ist. Die Konsequenz ist, dass ich versuche, meine Krankheit so gut wie möglich zu verstecken.
Es ist sehr wichtig, dass man akzeptiert, dass eine Depression eine Krankheit ist, für die man nichts kann und die man sich nicht ausgesucht hat. Wieder zu einer stabilen Phase zu kommen, das ist ein Prozess, der seine Zeit braucht – und man weiß nie, wie lange das dauern wird – und aus diesem Grund gibt es keine schlagartigen Heilungsmöglichkeiten. Doch mit ein bisschen Zeit und Geduld und der Wahrnehmung von entsprechenden Hilfestellungen schafft man es, diese Phasen zu überwinden.“