„Operation Nudeln“
Unzählige Vorratsdosen mit rosa, grünen und blauen Deckeln ragen aus dem geöffneten Rucksack. Strategisch günstig positioniert lehnt dieser an einem der Tische im Bereich Trockenlebensmittel. Von hier schwärmen sie in alle Richtungen aus, kommen mit gefüllten Dosen zurück, um gleich wieder mit leeren davon zu schwirren. “Nudeln! Wir brauchen noch Nudeln!”, ruft Benjamin, 7 Jahre, aufgeregt.
„Hier, nimm die Dose für die Nudeln“, koordiniert Katrin Krieg, Benjamins Mutter. Schon ist Benjamin unterwegs zu den Nudeln. Seine Schwester Leana, 5 Jahre, ihm hinterher. Frau Krieg hat alles im Blick. Schaut, fragt, leistet Hilfestellung wo nötig. Doch die Kleinen scheinen entweder geübt zu sein oder recht schnell zu lernen. Schon flitzt Benjamin zu den Linsen, während Leana die „Operation Nudeln“ beendet. Zu der Vermutung, sie kauften hier oft ein, lacht Frau Krieg herzlich. „Nein, wir sind leider selten hier“, sagt sie. Die Familie wohnt in Hochdorf, 10 Kilometer von Freiburg entfernt, dort spiele sich normalerweise das Einkaufen ab. Hier seien sie, weil die Kinder sich gewünscht hätten, in einem „Unverpackt-Laden“ einzukaufen. In Hochdorf gäbe es leider keinen. Es wäre schön, wenn der Supermarkt im Ort etwas Ähnliches anbieten würde.
Die „Glaskiste“ in Freiburg expandiert
Was ist in diesem Supermarkt in Freiburg das Besondere? Man bringt seine Verpackung mit, wiegt diese an einer Waage ab, klebt das Etikett auf die Verpackung, um später nicht deren Gewicht zu zahlen, und los geht‘s. Auf ungefähr 100 qm befinden sich eine Obst- und Gemüseabteilung, ein Wasch- und Körperpflegemittelbereich, Kühlschränke mit Milchprodukten, Müsli, Nudeln, Hülsenfrüchte, Trockenobst, Gewürze, Öle, Essigsorten. Alles in Klein- und Großpackungen, aus denen man nimmt, wieviel man braucht. Beim Sortiment achten die Betreiber auf Nachhaltigkeit. „Bio, Regional, fair“, so der Slogan. Neues Verpackungsmaterial kann erworben werden, nachhaltiges selbstverständlich. Kurzentschlossene ohne Bedarf an neuen Verpackungen greifen in die Kiste mit dem gespülten Altglas. Das angestrebte Konzept: „Zero Waste“.
In Deutschland eröffnete 2014 der erste Unverpackt-Laden. Seitdem ist die Tendenz stetig steigend. Laut Gregor Witt, Vorsitzender des Verbandes der Unverpackt-Läden “Unverpackt e.V.”, gibt es aktuell 193 Unverpackt-Läden. Weitere 191 Läden sind in Planung. Freiburg hat die “Glaskiste” (1). Die Bewertung über Google: 4,5 von 5 Punkten, bei 160 Rezensionen.
Das Angebot ist gefragt. Die Glaskiste expandiert. In Freiburg-Herdern wird aktuell ein ehemaliger Bio-Laden zu einem „Unverpackt Laden“ umgewandelt. Damit werde die Behauptung widerlegt, dass der Prozess vom Verpackt- zum Unverpackt Laden im laufenden Betrieb nicht möglich sei, sagt Björn Zacharias, einer der Inhaber der Glaskiste. Und tatsächlich, der Laden läuft. In den Regalen stehen zwar noch „die Übrigbleibsel“, wie sie Björn Zacharias nennt, aber an den Wänden hängen schon die ersten Spender mit Cerealien. „Und jeden Tag verändert sich der Laden etwas mehr“, so eine der Verkäuferinnen, die unentwegt Kundenfragen beantwortet.
REWE macht vor, wie es nicht geht
Das Verlangen der Kunden nach weniger Müll ist auch den großen Anbietern nicht entgangen. Vor allem seit die künftigen Käufer*innen auf das Erreichen der Klimaziele drängen, bewegt sich was. So begrüßt Rewe seine Kunden mit einem Plakat in der Obst- und Gemüseabteilung: „Endlich unverpackt“.
Unweigerlich stellt sich die Frage nach dem „endlich“. War es bislang verboten, weniger Verpackung zu verwenden? Und nach einem Rundumblick, fragt man sich, was für Rewe „unverpackt“ bedeutet? Vor allem in der „Bio-Abteilung“, für die mit diesem Plakat geworben wird, ist das meiste verpackt. Hier und da etwas weniger, zum Beispiel durch Banderolen bei den Zucchini oder Aufkleber bei den Paprika, aber sonst – unverpackt sieht anders aus. Auf der Webseite des Unternehmens findet man Antworten, die neue Fragen aufwerfen. Hier legt Rewe die eigenen Bemühungen dar, lobt sich für das schon Erreichte und setzt sich das Ziel, bis 2030 zumindest die Eigenmarken umweltfreundlicher zu gestalten. „Die Wege sind dabei vielfältig. Von spannenden Innovationen bei Materialien bis hin zu Detailarbeit an der Einzelverpackung“, schreibt Rewe (2). Besonders wird die Lösung für die Gurke hervorgehoben. Denn das Unternehmen habe die Transportprozesse verändert. Die Gurke wird nun folienfrei transportiert. Das empfindliche Gemüse müsse im Winter aus dem „sonnigen Spanien” bezogen werden. „Auf dem Weg vom Feld in die Rewe Frischeregale“, schreibt Rewe, komme die Gurke aber trotzdem unbeschädigt an.
Willkommen am „Mar del plástico“
„Sonniges“ Spanien? Tatsache ist, auch in Spanien zeigt das Thermometer die Hälfte des Winters nicht über 16° C Außentemperatur an. Anders sieht es auf dem Feld aus, von dem Rewe schreibt. In Andalusien in der Provinz Almeria sticht eine etwa 36.000 Hektar große Treibhausfläche hervor. Das sind etwa 33.000 aneinandergereihte große Fußballfelder. Nicht ohne Grund wird dieser „Gemüsegarten Europas“ auch „Mar del plástico“ (Plastikmeer), genannt. Geologisch gesehen handelt es sich um eine wüstenähnliche Landschaft. Regenarm, unfruchtbar, aber mit einem unterirdischen Wassersystem. Unter Folienhäusern werden die Temperaturen erzeugt, die Gurke, Tomate und Co. zum Gedeihen brauchen. 1,3 Millionen Tonnen Obst und Gemüse werden hier jährlich produziert. Der Obst- und Gemüseanbau verbraucht 80 Prozent des Grundwassers, was der Region erhebliche Probleme bereitet (3). Die Menschen, die auf diesen Feldern arbeiten, werden ausgebeutet (4). Oft sind es Geflüchtete, die als Tagelöhner arbeiten. Oft illegal, rechtlos. Es kommen Gifte zum Einsatz, die nicht nur in den Boden und somit in das Grundwasser sickern, sondern auch die Arbeiter krank machen. Und diese Gifte landen auch auf den Tellern. Vor allem auf denen in Deutschland. Deutschland ist mit 600.000 Tonnen der zweitgrößte Abnehmer nach Spanien.
In Deutschland ist auch die Nachfrage nach Bio-Produkten besonders groß. Doch ob das tatsächlich „Bio“ ist, was als „Bio“ deklariert ist, wird in einem Bericht des „Stern“ stark bezweifelt (5). Die Behörden haben keine Kontrolle über dieses Gebiet. Weder über die Beschäftigungsmachenschaften noch über die Anbauprozesse. Die Produzenten beklagen, die Supermarktketten drückten die Preise, am Ende bleibe nicht viel übrig. Zumindest ist es genug, um die dazugehörige Stadt El Ejido von einer der ärmsten zur zweit reichsten Andalusiens zu machen. Auf Kosten der Umwelt, der Arbeiter und der Bevölkerung. Doch es gibt noch eine Steigerung der Absurdität dieser Form der Lebensmittelproduktion: Ein Großteil landet im Müll.
„Das müsste eigentlich alles anders laufen“
Die Freiburger Tafel (6) wurde vor 21 Jahren von engagierten Bürgerinnen gegründet. „Die Ursprungsidee war Lebensmittelrettung“, so Annette Theobald. Sie ist eine der Gründerinnen und die heutige Vorsitzende des Vereins. Der positive Nebeneffekt: Die “Tafel” hilft Bedürftigen. Heute sind es 6.920 Personen, die hier als „bedürftig“ registriert sind. Das sind etwa drei von hundert Freiburger Bürger*innen und somit keine Einzelfälle mehr. „Das hätte sich keine von uns träumen lassen, welches Ausmaß das annimmt“, sagt Anette Theobald. Allein die Freiburger Tafel bewahrte 2019 etwa 62 Tonnen frische Lebensmittel vor der Tonne.
Ohne die Sponsoren und die etwa 200 ehrenamtlichen Helfer*innen wäre das wohl nicht möglich. Etwa 5.100 Kilometer monatlich legen sie mit drei Fahrzeugen zurück, um die Lebensmittel abzuholen. Es handelt sich vor allem um Obst und Gemüse, Brot und etwas Kühlware. Großmarkt, Supermärkte, Freiburger Märkte, Bäckereien. Im Sommer ist es überwiegend regionale Ware, im Winter kommt sie aus Spanien, Italien, Übersee. Hier kommt alles weg. Wenn noch etwas übrigbleibt, holen es die Foodsharer. Studierende etwa, die die Lebensmittel gegenüber der Unibibliothek auf einem Lastenfahrrad allen zur Verfügung stellen.
Der bittere Nachgeschmack beim Engagement der Tafel: Längst hat sich eine weitere Parallelgesellschaft gebildet. „Inzwischen bedienen wir die 2. Generation. Das müsste eigentlich alles anders laufen“, sagen Mitarbeiter*innen der Freiburger Tafel.
Fast jede größere Stadt in Deutschland hat eine „Tafel“ mit einer mehr oder weniger ähnlichen Geschichte. Und es gibt Foodsaver. Allein oder in Gruppen organisiert retten sie legal Lebensmittel. Mitunter bewegen sie sich auch am Rande der Legalität. Supermärkte und Privatpersonen geben die Lebensmittel ab. Sie werden aber auch aus den Mülltonnen der Läden geholt. Die Foodsaver haben Verteiler eingerichtet, wo sich alle bedienen können. Diese Versuche, Lebensmittel zu retten, gleichen einem Kampf gegen Windmühlen. Das meiste landet ja doch auf dem Müll. Und die Wegwerfkette reißt nicht ab. Ob es schon beim Produzenten, auf dem Weg zum Händler, im Verkaufsladen oder schlussendlich beim Verbraucher passiert. Lebensmittel sind ein Wegwerfprodukt. Warum eigentlich?
Das fehlende Verständnis
Das Problem beginnt nicht an der Mülltonne sondern bei der Produktion. Weltweit werden schätzungsweise 12 Milliarden Tonnen zum Verzehr geeignete Nahrungsmittel weggeworfen. Das ist rund ein Drittel der Weltproduktion (7). Logisch gesehen müsste man also rund ein Drittel weniger produzieren, dann käme man auf „Null-Verschwendung“. Praktisch gesehen ist das unmöglich, solange sich nicht das Verhalten aller ändert. Das der Verbraucher*innen, die es gewohnt sind, fast alles zu fast jeder Zeit in großer Auswahl einkaufen zu können. Im besten Fall billig. Das des Handels, der versucht, diese Nachfrage so gewinnbringend wie möglich zu decken. Das Verhalten der Produzenten, die den Handel so gewinnbringend wie möglich beliefern wollen. All diese Komponenten führen zu keinem guten Ergebnis wie das Beispiel von Almeria in Andalusien zeigt. Die Umwelt wird zerstört. Menschen arbeiten unter beinahe sklavenähnlichen Bedingungen. Und vor allem verführt es zur Täuschung der Konsumenten durch die Lebensmittelindustrie.
Der Kunde ist König
Der Kunde ist König und seine Nachfrage entscheidet über das Angebot. Auch in der „Glaskiste“. Es ist zu sehen an Tomaten und Co. aus Spanien im Winter-Sortiment. Ob diese aus Almeria in Andalusien stammen und wie hier mit nicht verkauften Lebensmitteln umgegangen wird, konnte leider nicht mehr geklärt werden. Für Verbraucher gilt: im Zweifelsfall nachfragen. Für Benjamin und Leana ist das Einkaufen im „Unverpackt Laden“ noch ein Spiel, aber dadurch lernen sie schon jetzt, bewusst zu konsumieren. Es wird zur Normalität. Genauso könnte es für sie zur Normalität gehören, bestimmte Lebensmittel nur saisonal zu bekommen. Hier müssten zumindest die ernsthaften Bioprodukt-Anbieter konsequenter sein, auch wenn man sich damit dem Kundenwunsch verwehrt. Denn auf lange Sicht zahlen sich nur Authentizität und Nachhaltigkeit aus.