Rock ‘n‘ Roll und Soul, bunte Menschenmassen und ein Meer an Demonstrations­schildern, eine Stimme aus dem Off: „Woodstock, Studentenproteste, Hippies, Black Power, die sexuelle Revolution, Frauenbefreiung, 1971 war die Welt in Bewegung.“ Abrupt wird es leise und die Szenerie wechselt zu einem malerischen Dorf. Nur noch Kirchenglocken und Kühe sind zu hören. „Aber hier bei uns war es so, als ob die Zeit stillstehen würde“, fügt die Stimme der Protagonistin Nora hinzu. So beginnt ‚Die göttliche Ordnung‘, ein Schweizer Film aus dem Jahr 2017, der die späte Einführung des Frauenstimmrechts in dokumentarischem und humorvollem Stil thematisiert. Es ist 1971 berichtet Nora, aber es könnte genauso gut 100 Jahre früher sein, wenn es nicht die steile Asphaltstraße gäbe, auf der Nora mit ‚Schtuchä‘, dem Kopftuch, und langem Rock durch verschneite Berglandschaften Fahrrad fährt.

In Deutschland gibt es das Frauenwahlrecht seit 100 Jahren, andere europäische Staaten führten es wesentlich später ein: Griechenland 1952 und die Schweiz erst 1971.

Würden wir das Band der Geschichte ins Jahr 1971 zurück spulen, dann könnten wir uns in einem Dorf wie dem von Nora wiederfinden, mitten in der Schweiz, abgeschieden vom Rest der Welt. Hier könnten wir Sprüche hören – in dem Fall wohlgemerkt von einer Frau – wie: „Die Emanzipation der Frauen ist eigentlich ein Fluch“ oder „Frauen in der Politik, meine Damen, das ist schlichtweg gegen die göttliche Ordnung.“

Schweiz

Von Gleichberechtigung war damals nicht die Rede

Sibylle von Heydebrand ist eine Schweizer Juristin, die an der Universität Basel zum Thema Stimmrecht forscht. Sie ist Gründerin des Projekts ‚FrauenBasel‘ und war Präsidentin des Vereins, der 2016 das 50-Jahr-Jubiläum des Frauenstimmrechts im Kanton Basel-Stadt organisierte. Sie sagt: „Der Zeitgeist war bis in die 1960er und 1970er von einer dualistischen Geschlechterordnung geprägt.“ Ein prominentes Argument gegen das Frauenstimmrecht sei damals gewesen, dass der Zutritt der Frauen zur Politik zu einer Störung der Familienordnung führe. „Vor diesem Hintergrund präsentierten die Frauenstimmrechtsbefürworterinnen und -befürworter die Gewährung des Stimmrechts als Akt der Galanterie und der Ritterlichkeit. Es sei zwar von Verantwortungsbewusstsein gesprochen worden aber nicht von Gleichberechtigung. „Diese Strategie war mitverantwortlich dafür, dass die Männer Ja zum Frauenstimmrecht sagten.“

Ein langer Weg bis zum Frauenstimmrecht

Wieso hat es in der Schweiz so lange gebraucht bis es zum Frauenstimmrecht kam? Für die Juristin von Heydebrand ist klar: Politische Rechte gelten in der Schweiz aufgrund der direkten Demokratie als besonders anspruchsvoll. „Die Gewährung des Frauenstimmrechts bedeutete in der Schweiz Macht abzugeben, und zwar mehr Macht als in einer parlamentarischen Demokratie“. Außerdem seien Frauen auf allen politischen Ebenen auf die männlichen Stimmberechtigten angewiesen gewesen. „Die Stimmberechtigten haben in der Schweiz das letzte Wort, jede Verfassungsänderung muss dem Stimmvolk zur Abstimmung vorgelegt werden.“ Anders als etwa in Deutschland, wo das Parlament die Einführung des Frauenstimmrechts 1918 beschloss.

Und wie sieht es heute mit der Gleichberechtigung in der Schweiz aus? Für von Heydebrand gibt es trotz großer Fortschritte auf rechtlicher und faktischer Ebene noch viele Baustellen in Bezug auf Gleichberechtigung: Es gebe weiterhin eine geringere Teilhabe der Frauen in der Politik, denn für den Wahlerfolg der Kandidierenden sei die Medienpräsenz essentiell. „Der Anteil der Kandidatinnen beträgt ein Drittel, ihre Medienpräsenz lediglich ein Viertel der Berichterstattung und Redezeit im Vorfeld der Wahlen.“

Außerdem gehe der Arbeitsmarkt immer noch von einem ‚Alleinernährerhaushalt‘ aus. Von der insgesamt anfallenden unbezahlten Hausarbeit und Pflege von Angehörigen, der sogenannten Care-Arbeit, werden 62 Prozent von Frauen übernommen. Mit der Folge, dass diese seltener einer Erwerbsarbeit nachgehen können. Dies wirke sich insbesondere in der Altersvorsorge wirtschaftlich negativ aus, „denn wichtige Sozialversicherungen knüpfen an die Erwerbstätigkeit an“. Frauen seien zudem in Führungspositionen immer noch stark unterrepräsentiert und die geschlechterspezifische Lohnungleichheit sei lange noch nicht aufgehoben.

Gewalt in Partnerschaft und Ehe gehe mehrheitlich zulasten von Frauen und Kindern sagt von Heydebrand. Körperverletzung und Verletzung der sexuellen Integrität haben zugenommen, während registrierte Straftaten rückläufig seien. „Die Baustellen sind erkannt, die Sensibilisierung im Gange, das Arbeitstempo und der gesellschaftliche Wandel jedoch langsam.“.

Deutschland

Frauen sind in der Politik weiterhin unterrepräsentiert

Auch in Deutschland war der Weg zum Frauenwahlrecht nicht einfach, zumal Frauen generell von der Politik ferngehalten wurden. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde ein Gesetz erlassen, das Frauen die Mitgliedschaft in politischen Vereinen und Verbänden explizit verbot. Durch die Forderung von Frauenrechtlerinnen kam es nach und nach zur Auflockerung dieses Vereinsrechts. Gleichzeitig setzte sich vor allem die SPD für das Frauenwahlrecht um 1900 ein. 1904 fand die Gründungskonferenz des ‚Weltbundes für Frauenstimmrecht‘ in Berlin statt. Ende des 1. Weltkrieges, wurde das Frauenwahlrecht mit der Ausrufung der Weimarer Republik auf nationaler Ebene im November 1918 eingeführt.

Genau 100 Jahre später sagt die Freiburger Dozentin für Politikwissenschaft, Beate Rosenzweig, allerdings: „Die Politik ist, wenn es um Repräsentation geht, ein überwiegend männerdominierter Bereich.“ Obwohl die zwei wichtigsten Parteien in Deutschland von Frauen geführt werden – die SPD hat seit ihrer Gründung vor 155 Jahren zum ersten Mal eine Frau als Vorsitzende – sind die meisten Parteimitglieder männlich. „Schaut man sich den neuen Bundestag an, dann ist dieser von der Mitgliederzahl so groß wie nie zuvor und bei der Frauenrepräsentation so niedrig wie vor 19 Jahren.“

Im neu gewählten Parlament sind nur ein Drittel Frauen, wobei die AFD und die Union das extremste Ungleichverhältnis von 11 beziehungsweise 20 Prozent Frauenanteil aufweisen. Die Grünen, die Linke und die SPD haben einen relativ ausgeglichenen Männer-Frauen-Anteil, auch deshalb weil sie klare Quotierungsvereinbarungen haben.

Der niedrige Frauenanteil im deutschen Parlament ist fast deckungsgleich mit dem Frauenanteil im Nationalrat, der größeren Kammer der Schweizer Parlamentsversammlung. Und das, obwohl die Schweiz das Frauenstimmrecht etwa 50 Jahre später einführte.

Parteiinterne Rekrutierungsmuster als Hürde

„Rekrutierungsmuster in der Politik folgen immer noch weitgehend einer hegemonialen männlichen Norm“, sagt die Freiburger Dozentin Rosenzweig und erklärt somit das Ungleichverhältnis in der Repräsentation. Politisches Networking setze bestimmte Zeitressourcen voraus, zum Beispiel, um in Vereinen tätig zu sein oder berufliche Führungspositionen mit öffentlichem Ansehen auszuüben. Diese Voraussetzungen entsprechen vielfach nicht der Lebenswirklichkeit vieler Frauen, die bis heute einen großen Teil der Familien- und Pflegearbeit erledigen.

Für Parteien sei es schwer, genügend Frauen zu finden, die eine politische Karriere als attraktiv wahrnehmen und anstreben. „Dies ist sehr besorgniserregend, zumal es bei der politischen Qualifikation keinen Unterschied mehr gibt“, sagt Rosenzweig. Daher sollten Frauen gezielt rekrutiert werden und sich parteiintern vernetzten.

Rückläufige Tendenzen sind erkennbar

Und wie gleichberechtigt ist Deutschland heute? Indikatoren, die der ‚Global Gender Gap Report‘ zur Analyse der Gleichstellung der Geschlechter festgelegt hat, sind folgende: Ökonomische Teilhabe, bildungspolitische Gleichstellung, politische Machtverteilung und Gesundheit.

„Immer wieder wird das Gefühl vermittelt, es sei längst alles erreicht“, sagt Rosenzweig. Trotz aller Fortschritte, sei die Gleichstellung bislang jedoch nicht erfüllt. An den deutschen Universitäten liegt der Frauenanteil bei den Professoren bei unter 25 Prozent. „Je höher die Karriereleiter geht, umso geringer wird der Frauenanteil, obwohl Frauen in Deutschland mittlerweile mindestens genauso gut ausgebildet sind wie Männer.“ Gravierend sei, dass es rückläufige Tendenzen auf globaler Ebene, vor allem im Bereich der wirtschaftlichen Chancengleichheit und der politischen Beteiligung gebe. Was die soziale und ökonomische Situation angehe, seien Frauen weltweit stärker armutsgefährdet, Alleinerziehende deutlich öfter von Armut betroffen, viel häufiger prekär beschäftigt und bei der Alterssicherung benachteiligt. Hieran wird deutlich, dass es keinen linearen, automatischen Fortschrittprozess in Sachen Gleichstellung gebe. Mehr Frauen in politischen Ämtern und Führungspositionen bedeutet auch, so ist Rosenzweig überzeugt, dass geschlechtsspezifische Benachteiligungen und Themen wie Gewalt in der Ehe oder die Vereinbarkeit von Familie und Beruf stärker auf der politischen Agenda bleiben.

Übrig bleibt: Viel Veränderungspotential

Das vergangene Jahr 2017 war ein wichtiges Jahr für Frauen. Die Debatte über Sexismus und sexualisierte Gewalt ist in Hollywood schlagartig ausgebrochen und hat sich durch die #MeToo-Debatte in der Öffentlichkeit wie ein unaufhaltsames Feuer ausgebreitet, um bei den Golden Globes mit dem ‚Time’s Up-Pin‘ an die Filmindustrie – zumindest im Ansatz – festgenagelt zu werden.

Doch politische Bewegungen wie #MeToo, die Suffragetten und der von der Filmprotagonistin Nora initiierte Protest in der Schweiz geben eine Richtung an, verändern Verhältnisse, aber sie konnten der Geschlechterungleichheit noch kein Ende setzen.

„Die Männer machen die Gesetze, aber betroffen von den Gesetzen sind wir alle“. Mit diesem einfachen Argument plädiert Nora vor einer Masse an skeptischen Männern und Frauen für das Frauenstimmrecht. 50 beziehungsweise 100 Jahre später ist zumindest das Frauenwahlrecht eine Selbstverständlichkeit, aber Frauen in der Politik weiterhin eine Seltenheit. Noras Worte passen also auch heute noch. In Bezug auf Gleichberechtigung bleibt viel Luft nach oben. Filme wie ‚Die göttliche Ordnung‘ inspirieren vielleicht mehr Frauen diesen Platz zu beanspruchen.