Top 10 Alben des Jahres
1. Warhaus – Ha Ha Heartbreak (PIAS)
Bereits der Albumtitel resoniert mit mir. Erst bricht das Herz, darauffolgend dann der Schmerz und dann das bittersüße Lachen über sein eigenes Elend, während man sich in pseudoromantischen Playlists suhlt und über Stunden reminisziert wie das Leben sich lebte, als das Herz noch ein kleiner, heiler Kern war. No more Playlists: Ich habe meine Heartbreak-Platte gefunden.
Warhaus enttäuscht mich nicht, sondern lässt mich direkt beim Release 39-mal in Folge den Eröffnungstrack „Open Window“ abspielen. Warhaus hebt mich empor, Warhaus lässt mich „How could you do this to me?“ mitschreien, Warhaus lässt mich jemanden vermissen, von dem ich nicht mehr weiß, wer es ist. Klanglich weicht es nicht allzu sehr von seinen beiden Vorgängern ab, auch wenn es insgesamt weniger provokativ und wärmer klingt. Hervorzuheben ist allerdings auch, dass Maarten Devoldere sich an völlig neuen Tonlagen gesanglich ausprobiert, so dass seine äußerst markante tiefe Stimme, in Falsette geschwungen wird und dies eine Neuheit im Sound von Warhaus darstellt. Er selbst beschreibt sein Werk mit den drei Worten “sobering up, classic, warm“. Man wird durch Gefühlswelten mit auf Reise genommen, mal wird sehnsuchtsvoll in verlorener Liebe geschwelgt, dann auf die Zukunft vertröstet und letztlich die Erkenntnis: „You’re the best I ever had’, Cause all I ever wanted was a lot. To be your man was something I could not“. Ein Rausch innerhalb der Zeitspanne des Moments des Dolchstoßes bis zur unweigerlichen Erhabenheit. Ein Nüchternwerden ohne verbittert zu sein, sondern ganz und gar mit bittersüßer Träne versöhnlich der Liebe gegenüber.
2. Okay Kaya – SAP (Jagjaguwar)
Okay Kaya wurde schnell zu meiner eigenen Stimme internalisiert. Ihr Album „SAP“ ist geprägt von leisen Tönen, die aber eine radikale Offenheit beanspruchen und ihr Leben als Künstlerin als Selbstschutz, wunderbar zusammengefasst als „It’s my crazy-bitch-prevention. It’s not just for attеntion. My mind grows hungry for a better mood. I write a song until I feel somеthing new” vorgetragen und das gemeinsam mit Indie-Ikone Adam Green. Eine junge Künstlerin, die sich nicht scheut, ihre eigenen Coping-Mechanisms unverblümt und ruhig zu manifestieren und mit zahlreichen musikalischen Features zu experimentieren. Eine verträumte atmosphärische Melange, die zum Leben erwacht und den Schleier hebt.
3. Pauls Jets – Jazzfest (Staatsakt)
Was soll man sagen: Pauls Jets haben sich seit 2018 zu meinem Lieblings-Österreich-Export entwickelt und diese Liebe geb‘ ich nicht mehr her. Rotzfrech, verschmitzt und charmant singt Paul Buschnegg unverstellt seine Interpretation von Jazz auf 18 Songs in Gesamtlänge von 72 Minuten „Das ist doch kein Jazz man, das ist doch schon Fusion“ als Opener. Danach folgt der Mundharmonika-Instrumental-Song namens „Intro“. Raffiniert. Was einen erwartet? Synthis, echte Gitarren und Banger wie „Therapy“ oder „Der Wecker läutet früh am Morgen“ auf dem z.B. die Jets-Bassistin Romy Jakovic singt. Eine gewisse Exzentrik ist zu spüren, was für mich das ganze Album in seiner Kreativität und einzigartigen Attitude zwischen bewusster La-La-La-Eingängigkeit und eben doch out-of-the-box-Pop noch emporheben lässt. All the power to Pauls Jets!
4. Brezel Göring – Psychoanalyse Vol. 2 (Stereo Total)
Brezel Göring besingt in seinem Album „Psychonalyse, Vol.2“ den Abschied auf die Band Stereo Total, dessen Front-Sängerin und Görings Lebenspartnerin Françoise Cactus im Jahre 2021verstorben ist. Es ist Görings Debut-Album mit 55 Jahren und das schonungslos ehrlich und sensibel, voller zerbrechlichem Leid und einsamen Aufbruch. Seine hyper-emotionalen Chansons sind gesanglich zurückhaltend und zugleich imposant 60s lastig inszeniert. Schade, dass erst dieser Schicksalsschlag Görings erstes Album hervorbringen musste.
5. Paolo Nutini – Last Night In The Bittersweet (Atlantic Records)
Paolo Nutinis unvergleichliche Stimme habe ich seit seinem letzten Album ganze acht Jahre schrecklich vermisst. Klanglich deutlich experimenteller und positiv volatil beschert uns Paolo Nutini Vintage-Rock, Synthis, Basslines, und Echos. Eine gereiftere Neubesetzung seiner künstlerischen Identität welche ihm wahnsinnig gut steht. Ein Künstler von dem ich niemals müde werde.
6. Get Well Soon – Amen (Virgin Music)
7. Nick Cave – Seven Psalms (Cave Things)
8. Dillon – 6abotage (BPitch Control)
9. Nilüfer Yanya – Painless (ATO Records)
10.Ekkstacy – Misery (Ekkstacy/United Masters)
Song des Jahres
Fontaines D.C. – I Love You
Als ich diesen Song das erste Mal bei uniFm hörte, konnte ich nicht einordnen, ob er aus den 90er stammt und ich ihn bisher verpasst hatte oder er mir noch nicht zu Ohren gekommen ist. Zeitlosigkeit? Ein gutes Zeichen meines Geschmacks nach. Ein wütender, überraschend politischer und lyrisch anspruchsvoller Song, trotz des eingängigen Refrains, und eine Auseinandersetzung mit generationaler Gleichgültigkeit. erwartet uns hinter dem plakativen Titel „I love you“. Die Irländer um Grian Chatten beherrschen die Melange zwischen Britpop und Post-Punk außergewöhnlich modern und kreiden irische Politik und Kultur an. Was wie ein Liebeslied sich auf den ersten Blick deuten lässt, ist in Wahrheit eine Zäsur ihres Landes zwischen Liebe und Misstand. „And they say they love their land, but they don’t feel it go to waste. Hold a mirror to the youth and they will only see their face. Make flowers read like broadsheets, every young man wants to die. Say it to the man who profits, and the bastard walks by”. Musikalisch wie auch textlich ein Meisterwerk mit einer adulten Wut und Kampfgeist gesungen, welche trotz des melodischen Aufbaus kämpferisch durch Mark und Bein geht.
Debut des Jahres
The Haunted Youth – Dawn of the Freak (Mayway Records)
Zwischen Shoegaze und verträumten Britpop-Sphären bewegt sich der Belgier Joachim Liebens mit seiner sinnlichen Stimme, die er in den Songs entweder mit Echos oder klar einzusetzen weiß. Die Belgier erscheinen mit ihrem Debutalbum „Dawn of The Freak“ auf der Bildfläche, die die Herzen der Shoegazer-Anhängerschaft der heutigen Generation aufblühen lässt. Auch wenn „The Haunted Youth“ nicht das Rad neu erfindet, tut es gut zu wissen, dass ein Shoegaze-Album im Jahre 2022 sich gleichzeitig zeitgenössisch wie auch nostalgisch anfühlen und mit neuem Spin in die Träume einkehren kann.
Artist des Jahres
Purple Palace
Shayna Klee ist selbsternannte Multimedia-Künstlerin. Als US-amerikanische Kunsthochschulen-Alumni in Paris ist sie als Expat zwischen den künstlerischen Welten zu Hause, die sich in Fantasie, und solide Plastik widerspiegeln. Sie dreht Kurzfilme, sie ist Lyrikerin und Autorin, malt Gemälde und arbeitet mit Skulpturen und nun hat endlich ihre Musik das Licht der Welt gesehen. Auch wenn erst zwei Songs veröffentlich sind, lässt sich gespannt auf ihr Debut-Album blicken. Mit ihrem bilingualen Song „I Know Where You Live“ reflektiert sie ihre Ehe und Scheidung in ihren 20ern. Dieser Herzschmerz, enttäuschte Illusionen und betrügerische Realitäten bringt sie lyrisch und visuell hervor. Authentisch und kohärent in ihrer Entwicklung präsentiert sie sich vulnerabel und gleichzeitig wie ein Phönix aus der Asche. Dem beizuwohnen ist ein Segen für die junge, künstlerisch anspruchsvolle weibliche Independent-Szene.
Schlimmster Song
Nina Chuba – Wildberry Lillet (Jive Records)
Es mag an meiner persönlichen Präferenz liegen, aber ich kann dieser neuen Mainstream-Strömung nichts abgewinnen. „Ich will Immos, ich will Dollars, ich will fliegen wie bei Marvel. Ich hab’ Hunger, also nehm’ ich mir alles vom Buffet.“ Ich erwarte wahrlich keine Weltretter:innen-Texte (bitte nicht!), aber dieser Insta-Egoismus par excellence, weder im Klassenkampf verankert und noch nicht einmal im existentialistisch Hedonistischen ausgeführt, sondern nur des eigenen Überflusses willen, kann mich leider nur empören lassen. Und dabei liebe ich große Diva-Momente, Frauen und Personen*, die sich nehmen, was sie sich verdienen, aber diese Art von Infantilität gepackt in Pseudo-Latino-Beats, Neue Neue Deutsche Welle und Trap, muss sich leider als Ausgeburt des schlimmsten Songs des Jahres darstellen.
Schlechtestes Album
Arcade Fire – WE (Columbia Records)
An dieser Stelle könnte ich ein Deutschrap-Album (machen die überhaupt noch Alben?) auswählen, aber das wäre einfach zu plakativ. Kill your darlings! Auch wenn ich Arcade Fires Frühwerke verehre und ein Portrait aus 2004 der Band an meiner Wand hängt, kann ich „WE“ leider nicht das abgewinnen, was ich erhofft hatte. Das Album ist keineswegs schlecht und hat ziemlich sicher den Titel des schlechtesten Albums überhaupt nicht verdient, aber es ist das, was mich am meisten ernüchtert hat in Vorfreude auf dystopische Welten. Die Alben, die den Titel meiner Meinung nach am ehesten Verdienen würden, höre ich erst gar nicht. Man wird anspruchsvoll mit seiner Zeit, so dass ich keine Zeit für miserable Alben einräume. Deshalb mit einem nicht allzu negativen Unterton: „WE“ hat meine eigenen Arcade-Fire Ansprüche und Hoffnungen nicht getroffen, da sie sich im Ewig-Gestrigen verfangen (nämlich das Ankreiden der Technologie und der kulturellen Entwicklung) und das ganze erschreckend emotionslos und muss deshalb für mich das „enttäuschendste“ Album sein statt des Schlechtesten. Diese Langweile, die mittlerweile stattfindet und Win Butlers Anschuldigungen tun das Restliche.