Top 10 Alben des Jahres
1. FKA Twigs – CAPRISONGS (Young Turks)
Kein “richtiges” Album im “eigentlichen“ Sinne – sondern eine Art MIXTAPE – und deshalb viel freier als das letzte Album „Magdalene“ von 2019, das sehr bewusst Richtung Avantgarde Pop-Thron als „the next logical step“ gehen wollte. CAPRISONGS ist etwas richtungslos und verspielt, probiert viel aus, mixt Interludes und pep-talks von Freundinnen hinein – aber ohne sich in den ausprobierten styles zu verheddern. Einfach weil CAPRISONGS überhaupt kein steifes Kopfalbum ist, sondern intuitiv, self-aware und lässig wirkt. Eigentlich der völlig falsche Vibe für dieses anerkannt beschissene Jahr…
2. Show me the body – Trouble the water (Loma Vista)
Dann doch besser das hier: Ein Klumpen Dreck, ugly melting pot – hier ist alles hässlich: Die Gitarren, die Riffs, der Gesang, die Raps. Dass im Jahr 2022 so angestaubte Genres wie Thrash oder HC entmottet und dem popkulturellen Bewusstseinsstrom wieder zugeführt werden, ohne lächerlich zu wirken, ist eine sehr feine Sache. Mit der entsprechenden politischen Haltung dazu – Musik zur Zeit (I)!
3. Die Nerven – Die Nerven (Glitterhouse)
Seit seligen Slime-Zeiten hat niemand im Pop so gleichermaßen empathisch wie ablehnend DEUTSCHLAND behauptet. Ein dunkles, hartes, emotionales Statement der Nichtzugehörigkeit. Musik zur Zeit (II)!
4. Rosalía – Motomami (Epic)
Gerade die spannendste Musik die es gibt: (vorzugsweise) Frauen, die sich alle möglichen Stile und (jaaa!!) Kulturen aneignen und daraus diese wahnwitzig eklektizistischen Kunst- und Kommerzprodukte schaffen. Best: Rosalia.
5. Mabe Fratti – Se Ve Desde Aquí (unheard of Hope)
Der genaue Gegenentwurf zu Rosalía: Introvertiert, zurückgenommen, behutsam. Im Ergebnis also „music stripped to the bones“.
6. Bilderbuch – Gelb ist das Feld (Maschin)
7. Lucrecia Dalt – ¡Ay! (Rvng Intl.)
8. King Hannah – I’m not sorry, I was just being me (City Slang)
9. Yeule – Glitch Princess (Bayonet)
10. Kevin Morby – This is a Photograph (Dead Oceans)
Song des Jahres
Muff Potter – Nottbeck City Limits (Huck’s Plattenkiste)
Ich liebe ja das Spiel mit Referenzen. Referenz A: Nutbush City Limits von Tina Turner. Meint ländliche Ortsgrenzen und moralisch-sittliche Beschränkungen. Referenz B: Potemkin City Limits von Propagandhi. Erzählt die Geschichte von Francis, einem Schwein, das den Schlachtern entwischt (“A quarter mile, just short of the city limits – They finally captured him“) A+B =C, ergibt Nottbeck City Limits, ein neunminütiges Manifest, das die Ausbeutung der vor allem osteuropäischen Arbeiter*innen mit dem Leiden der massenhaft abgeschlachteten Tieren verknüpft.
Debut des Jahres
The Smile – A light for attracting attention (XL)
Gilt das als Debut? Diese alten Typen? Und eigentlich find ich das gerade erschienene Livealbum eh besser…
Artist des Jahres
Lewsberg
Irgendwie wichtig dieses Jahr: Wie verhält sich Musik gegenüber der Welt? Auch eine Art den Verhältnissen zu begegnen: Stoisch wie Lewsberg. Mit minimaler Bewegung – ganz viel Attitüde. Singen ist ja auch länger schon out und Velvet Underground sowieso die beste Band der Welt.
Schlechtestes Album des Jahres
Tocotronic – Nie wieder Krieg (Vertigo)
Nicht wirklich schlecht. Aber ärgerlich. Jochen Distelmeyer hat dieses Jahr im Interview mal gesagt, ein Künstler müsse imstande sein, die Verhältnisse zu antizipieren (oder so ähnlich). Tocotronic haben Anfang des Jahres Albumtitel und Songliste gedroppt und dann Song für Song bei spotify (oder deezer oder tidal) veröffentlicht, wobei dann so langsam klar wurde, „Nie wieder Krieg“ ist trotz des Albumnamens kein politisches Album, es sei denn, man versteht das Private als politisch, der Krieg ist dann auch kein äußerer Krieg, sondern ein innerer, blablabla. Dann kam der richtige Krieg. Ist halt blöd, wenn man Antikriegsparolen popkulturell durchverwurstet und einem dann die Realität um die Ohren fliegt (ignorant ist so ein Albumtitel immer, ist ja auch immer irgendwo Krieg – nur nicht immer so offensichtlich).
Schlimmster Song des Jahres
DJ Robin und Schürze – Layla (Label: mir doch egal)
Das wirklich Schlimme ist aber nicht, dass es dieses Lied gibt, sondern dass es heute ist, was es eben ist. Das Schlimme sind die Verkaufs- und Streamingzahlen, die ganze attention und das Empörungsgeblubber. Die Rechten haben die Aufmerksamkeitsstrategien des Pop so selbstverständlich gekapert, weil die (linksliberale) Medienökonomie so lustvoll wie selbstgerecht diese Hypes mitbefeuert. Und: Verbieten gehört verboten – auch wenn‘s Scheissdreck ist.