Hallo Dominique Schirmer, Sie sind Soziolog:in an der Uni Freiburg und arbeiten gerade die Stonewall-Demo von 1989 in Freiburg auf, die sich für die Rechte der LGBTQ*-Community eingesetzt hat. Sie haben damals die Demo mitorganisiert. Die Stonewall-Demo heißt heute Christopher Street Day, kurz CSD. Auf was bezieht sich die Bezeichnung Stonewall-Demo?

Dominique Schirmer hat 1989 an der Demo teilgenommen, sie mit organisiert und die Eröffnungsrede gehalten. Die Soziolog:in arbeitet an der Universität Freiburg.
Dominique Schirmer hat 1989 an der Demo teilgenommen, sie mit organisiert und die Eröffnungsrede gehalten. Die Soziolog:in arbeitet an der Universität Freiburg.

Die Geschichte dahinter ist, dass queere Menschen, Lesben, Schwule, trans Personen in dieser Kneipe, im Stonewall Inn in New York, zuhause waren und sich da oft getroffen und aufgehalten haben. Das Stonewall Inn befand sich in der Christopher Street. Es war gang und gäbe, dass Behörden kamen, die Polizei kam und die Leute kontrolliert, schikaniert und zum Teil ins Gefängnis gesteckt hat.

Irgendwann haben sich die Leute das nicht mehr gefallen lassen. Dann gab es 1969 den sogenannten Stonewall-Riot, einen Aufstand, bei dem die Menschen sich gewehrt haben. Dabei kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen, es wurde mit Flaschen und Gegenständen geworfen. Jemand soll einen Molotow-Cocktail in die Kneipe geschmissen haben. Es gab richtige Krawalle und das war für die Community das Zeichen „Wir wehren uns und lassen uns nicht gefallen, dass wir schikaniert werden“.

Dieser Aufstand war in vielen Ländern für die Communities eine Initialzündung. Deshalb wird das bis heute weltweit gefeiert und bei Veranstaltungen immer wieder auf diese Christopher Street oder Stonewall-Ereignisse zurückgeführt. Inzwischen ist der Name CSD in Deutschland gebräuchlich. International heißt es Gay Pride oder Queer Pride.

Wir haben die erste Demo 1989 in Freiburg Stonewall genannt. Den Namen CSD gab es noch nicht. Zum 20. Jahrestag wollten wir mit der Stonewall-Demo der Ereignisse gedenken.

Inwiefern haben bei den Stonewall-Riots People of Color (PoC), trans Personen und trans PoC eine Rolle gespielt?

Sie haben eine große Rolle gespielt. Deshalb können wir aus heutiger Sicht sagen, das war wirklich eine queere Community, mit allen möglichen Leuten mit verschiedenen Hintergründen. Es waren queere Schwarze und PoC-Personen, trans Personen, Lesben und Schwule dabei.

Seit 1979 gibt es den CSD oder Gay Pride in der BRD und seit Anfang der 1980er in NRW. War die Demo 1989 der erste CSD in Freiburg?

Alle Quellen, die ich gesichtet habe, sagen, es war der erste CSD in Freiburg. In Berlin begann die Bewegung auch um die 1980er Jahren. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es in den 60ern oder in den 70ern bereits solche Veranstaltungen in Freiburg gab.

Wie kam es genau zur ersten Stonewall-Demo in Freiburg?

Wir haben damals eine Gruppe gegründet, die hieß Lesbenaktionsgruppe. Wir waren eine Gruppe von Lesben, die aus Empörung, aus Wut, aus Aktionsdrang, alles was wir in die Finger bekamen, behandelten. Mit anderen zusammen habe ich damals beispielsweise auch die Freiburger Lesbenfilmtage gegründet.

Wir haben uns mit sehr vielen politischen Themen befasst. Beispielsweise gab es damals die Clause 28 in Großbritannien. Die britische Regierung hatte ein Gesetz erlassen zur „homosexuellen Propaganda“, so wie es das jetzt in Russland gibt. Dieses Gesetz besagte: Alles, was Werbung für Homosexualität macht, ist strafbar. Das heißt, es durfte beispielsweise keine Werbung mehr für das Lesbentelefon, einer Beratungsstelle für lesbische Frauen, gemacht werden.

Wir haben etwas gesehen oder etwas mitgekriegt und haben daraus Aktionen gemacht. So haben wir auch die Geschichte vom Stonewall Inn aufgegriffen. Wie es genau dazu kam, weiß ich nicht mehr. Ich erkläre mir das so, dass es einige Aktivist*innen gab, die sich an den Ereignissen von 1969 orientiert hatten und der 20. Jahrestag ein guter Anlass war, selbst eine Demo zu organisieren.

Hauptinitiator*innen der Demo 1989 waren der Verein Rosa Hilfe und die Lesbenaktionsgruppe. Wie wurde die Demo aufgenommen?

Ein schönes Beispiel ist: Wir hatten Luftballons, auf denen stand „Wenn ich groß bin, werde ich lesbisch“ oder „Wenn ich groß bin, werde ich schwul“. Eine Frau mit ihrer Tochter, einem kleinen Kind im Kinderwagen, hat uns gefragt, ob sie so einen Luftballon kriegt. Die Tochter wollte unbedingt diesen Luftballon haben und die Mutter war sehr freundlich und ganz begeistert. Das waren Momente, die für uns einfach toll waren, da wir bis dahin meistens negative Erfahrungen gemacht hatten in der Gesellschaft und auf der Straße. Auch durch Berichte und Gespräche mit anderen Beteiligten habe ich rekonstruiert, dass die Stimmung damals sehr gut war, auch bei den Leuten, die an der Straße standen.

Aber es gab natürlich auch andere Situationen. So hieß es bei der Behördenanmeldung der Demo, dass wir nur bis 23 Uhr feiern dürften. Da die Feste in der Gießereihalle aber normalerweise bis zwölf oder ein Uhr nachts gingen, empfanden wir das als Schikane seitens der Behörden. Auch was die Berichterstattung anging, gab es damals große Kritik und Frust, weil eigentlich nicht über die Demo berichtet wurde, beziehungsweise aus unserer Sicht falsch berichtet wurde.

Wie lief die Demo ab?

Auf der Demoroute gab es viele Stationen, die mit unserer Lebenssituation zu tun hatten: Mit unseren Ängsten, unseren negativen Erfahrungen, wie zum Beispiel dem Verschweigen von Homosexualität in der Schule, dem auf Heterosexualität bezogene Sexualkunde-Unterricht und die Verweigerung in den Schulen andere Themen aufzugreifen oder die sogenannten „Rosa Listen“.

Wir waren zum Beispiel bei dem ehemaligen Polizeirevier in der Goethestraße, das auch das Gestapo-Zentrum in der NS-Zeit war. Es gab auch nach der NS-Zeit noch die „Rosa Listen“, in denen notiert wurde, wer homosexuell war. Das war ein Erbe der NS-Zeit, aber der Anfang der Listen soll bis ins 19. Jahrhundert zurückgehen

Wir waren auch bei der Kirche. Traditionell machen wir beim CSD einen Stopp und verschiedene Aktionen beim Erzbischöflichen Ordinariat. Meiner Meinung nach haben wir das begründet.

Die einzelnen Stationen und Themen setzten sich mit der Benachteiligung oder zum Teil auch Verfolgung auseinander. Der Paragraph 175 war zum Beispiel Thema auf der Stonewall-Demo, denn zu der Zeit hatte er noch Bestand.

Welche Rolle spielte der Paragraph 175, der Homosexualität kriminalisierte, für die gesellschaftliche Stigmatisierung homosexueller Menschen?

Ich glaube, er hat für Schwule und Lesben eine gleichermaßen wichtige Rolle gespielt. Ebenso hat er eine große Rolle für die Bilder in der Gesellschaft von Lesben und Schwulen, Frauen und Männern und Sexualität gespielt. Wenn eine Gesellschaft eine Ordnung hat, Gesetze und so weiter, dann hat das Auswirkungen auf die Vorstellungen, die in der Gesellschaft bestehen. Wenn es ein Gesetz gegen Schwule gibt, das besagt, dass schwule Handlungen strafbar, böse, schlimm sind, hat das eine Auswirkung auf die Gesellschaft. Ich glaube, dass der Paragraph 175 auf der einen Seite eine Folge dieser gesellschaftlichen Bilder war, aber auf der anderen Seite ein ganz starkes Mittel, um weiterhin Vorurteile zu transportieren und zu festigen.

Ich möchte aber auch den lesbischen Aspekt beleuchten. Denn ich glaube, dass die Verfolgung von Lesben im Zusammenhang mit dem Paragraphen 175 eine andere war. Eine, die Männer eine eigene Sexualität, ein eigenes Leben und eigene Bedürfnisse zugestanden hat und Frauen nicht. Das ist auf der einen Seite für die Schwulen, die betroffen waren vom Paragraphen 175, dramatisch: Sie kamen ins Gefängnis, litten über diese Zeit hinaus und auch überhaupt von Strafe bedroht zu sein, ist ein massiver Eingriff. Aber es zeigt auch, dass die Lebensbedingungen anders waren und das Zugeständnis an eigene Bedürfnisse, an eine eigene Sexualität, den Frauen nicht gemacht wurden. Insofern blieben sie zwar von der Strafverfolgung verschont, aber die gesellschaftliche Verfolgung, Diskriminierung oder Einordnung war eine andere. Beispielsweise wurde lesbischen Müttern die Kinder entzogen. Das ist ein Thema, das kaum diskutiert, geschweige denn aufgearbeitet wurde.

Darüber hinaus gab es auch Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland. In der DDR wurde der Paragraph 175 früher abgeschafft, während er in der BRD erst nach der Wiedervereinigung aufgehoben wurde.

Welche Bedeutung hatte die Stonewall-Demo für die LGBTQ*-Community in Freiburg?

Es war ein ganz bedeutendes Ereignis, weil Homosexualität bis dahin nicht öffentlich thematisiert wurde. Schwulsein existierte höchstens in negativer Form in der Öffentlichkeit. Lesben existierten dort überhaupt nicht. Deshalb glaube ich, dass es für die Leute, die teilgenommen haben, extrem wichtig war zu sehen, dass es etwas gibt – ein großes Ereignis, das einen Tag füllt mit einer Demonstration. Es war ein ausgedehntes Wochenende mit einer starken Präsenz, was für uns wichtig und auch schön war.

Was hat sich seit der Stonewall-Demo verändert, beispielsweise in Bezug auf die Inhalte oder den politischen Gehalt? Der damalige Begriff Demo impliziert ja eher etwas Politisches, während die heutigen Begriffe CSD und Pride eher mit Paraden assoziiert werden.

Ja, das war lange ein Thema, aber in den letzten Jahren ist der CSD wieder politischer geworden. Noch vor ein paar Jahren war er nicht zu vergleichen mit den CSDs oder Demos in den Anfangsjahren. Damals war der Zweck oder die Motivation klar: Wir wollen auf die Straße. Wir wollen Forderungen stellen. Wir wollen auf Missstände hinweisen. Natürlich wollten wir auch sichtbar sein, aber es ging primär um Missstände und um Forderungen.

Viele sagen, und ich finde sie haben auch recht, dass es auch ein öffentliches Feiern sein soll. Sie sagen, dass es darum geht, Raum einzunehmen oder einfach zu feiern. Das ist legitim. Aber das Gleichgewicht hat sich verändert.

Diese Spannung zwischen der politischen Demonstration und der feierlichen Parade war von Anfang an da. Es gab immer Leute, die politisch sein wollten und andere, die einfach feiern wollten. Das prägt den CSD bis heute.

Welche Herausforderungen sehen Sie für die LGBTQ*-Community?

Ich sehe viele Herausforderungen. Ich fange mal mit der dramatischsten an: Die politische Entwicklung. Ich will nicht schwarzmalen, aber ich mache mir Sorgen, weil es rechte Parteien gibt, die AfD, die immer stärker wird. Ebenso haben sich der Diskurs und das Sagbare in der Gesellschaft verschoben. Das macht mir große Sorgen, für die ganze Gesellschaft, unabhängig vom Aktivismus. Das, was jahrelang so weit weg schien – Listen und Akteure, vor denen wir Angst haben sollten – taucht jetzt wieder am Horizont auf. Die Möglichkeit, dass es eine politische Entwicklung gibt oder dass es Parteien gibt, vor denen wir Angst haben müssen, ist das Worst-Case-Szenario. Ein Szenario mit dem wir uns befassen müssen. Es gibt Ängste in meiner Generation. Da wir mit Rosa Listen sozialisiert wurden, mit einem Staat und Behörden, die homophob sind und von denen Gefahr droht.

Und wenn wir nicht so negativ denken und hoffen, dass sich die Situation wieder verbessert, gibt es viele Themen die wichtig sind. Da ist das Selbstbestimmungsgesetz und das Thema trans, mit dem Vorwurf der Transphobie auf der einen Seite der Community und den Vorwürfen gegen diese „Transpropaganda“ auf der anderen.

Das sind extreme Positionen zu einer Auseinandersetzung von Transsexualität, Transidentität und überhaupt geschlechtlicher Identität. Wir haben damals geschrieben „bringt den Heterroismus zu Fall“, also Heteronormativität, aber wir nannten es Heterrorismus. Eigentlich geht es dabei um Geschlecht – also was bin ich als Mensch, welches Geschlecht weist mir die Gesellschaft zu, muss ich mich als Frau oder Mann identifizieren und wen darf ich lieben.

Im Grunde ist die aktuelle Diskussion um trans oder Nicht-Binarität und wie viele Geschlechter sichtbar sein dürfen, immer dieselbe Thematik. Für mich als feministische Aktivistin sind das die Themen des Feminismus. Es geht darum, wer ich bin und wie ich mich in der Welt bewegen kann, was ich als die Person, die ich bin, darf. Alles ist mit diesem Geschlecht verknüpft.

Es gibt ja auch innerhalb der Community Uneinigkeit, wenn es um die Außenwirkung geht. Also inwiefern man sich in der Selbstdarstellung zurückhalten sollte, um nicht auf negative Reaktionen aus der Gesellschaft zu stoßen.

Ich finde das eine wichtige Frage und würde nicht sagen: „Bitte benehmt euch ordentlich, macht die Musik leiser und zieht euch richtig an. Wir wollen hier ein politisches Thema transportieren.“ Es ist doch schön zu sagen „ja wir feiern uns“, aber dann muss das Politische eben auch da sein. Denn es gibt ganz viele Sachen, die auf der Agenda stehen.

Ich finde auch, „Paradiesvögel“ dürfen sein. Wir leben ja in einer vielfältigen Gesellschaft. Wir erschrecken niemanden, wenn jemand in Federboa und nur mit Hose oder ohne Hose und mit Federboa erscheint. Trotzdem sind mir mehr politische Inhalte oder Reden wichtig. Es ist für mich kein Widerspruch, aber das Politische braucht meiner Meinung nach mehr Gewicht.

In der Bildergalerie könnt ihr die originalen Flyer und Aufrufe zur Stonewall-Demo 1989 in Freiburg sehen:

Flyer und Aufrufe bereitgestellt von Dominique Schirmer und der Rosa Hilfe Freiburg e.V

Frauenstreik_Demo_We-fight-like-girls
Frauenstreik_Demo_Equality-Now
Frauenstreik_Umfrage_Ab-aufs-Rad-gegen-das-Patriarchat
Frauentag für mehr Chancengleichheit vor der Unibibliothek am Platz der Alten Synagoge.
Frauenstreik 2024_Umfrage Team
Frauenstreik_Demo_Unsere-Wut-ist-legitim
Frauenstreik 2024_Umfrage Team
Aufruf zur Demo 1989.
Original-Plakat von der Stonewall-Demo 1989.
Forderungen der Demonstrierenden in Freiburg 1989 und Kontext zu den Stonewall Riots in New York 1969.
T-shirt von der Stonewall-Demo 1989.
Aufruf an die Demoteilnehmer*innen mit Stadtplan und Route der Demo vom 24. Juni 1989.
Pressemitteilung der Rosa Hilfe Freiburg e.V. vom Juni 1989.
Demo-Aufruf und kulturelle Angebote von Vereinen.
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Katharina, Lilli und Vinzent waren beim CSD 2024 für euch dabei und haben Impressionen mitgebracht:

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