Vom seelischen Gleichklang zu Facebook-Friends
Freundschaft wird gegenüber der Paarbeziehung oft vernachlässigt, wenn wir über Beziehungen sprechen. Im Gespräch mit Josephine von uniONLINE hat Philosophie-Professor Andreas Urs Sommer erzählt, wie sich Freundschaft mit der Zeit gewandelt hat und warum der Begriff platonische Beziehung irreführend ist.
Hallo Herr Sommer, Sie sind Professor für Philosophie mit dem Schwerpunkt Kulturphilosophie. Wenn wir über Freundschaft sprechen wollen, ist es zunächst wichtig zu klären: Was ist überhaupt Freundschaft?
Das wurde in der 2500-jährigen Geschichte der Philosophie sehr unterschiedlich bestimmt. Wenn man bei den vorsokratischen Philosophen anfängt, dann kann man feststellen, dass da die philia – der griechische Begriff für Freundschaft, aber auch für Liebe – als kosmisches Prinzip verstanden wurde. Er bedeutet, dass sich Dinge zueinander hingezogen fühlen. Man könnte also auch von einer philia zwischen einem Magneten und einem Stück Eisen sprechen.
In der von Sokrates inspirierten griechischen Philosophie traten dann bei der philia die Fragen des Kosmischen in den Hintergrund. Da geht es um die zwischenmenschlichen Beziehungen. Die Grundthese ist, dass der Mensch ein soziales Wesen und nicht gerne alleine sei. Aristoteles, einer der wichtigsten Vordenker zu Freundschaft, hat schon ganz unterschiedliche Formen von Freundschaft unterschieden. Bei ihm gibt es die Freundschaft zu gemeinsamen Zwecken, sprich eine kollegiale Freundschaft oder eine Geschäftsbeziehung, bei der es keine emotionale Anziehung gibt. Heute würden Sie das wahrscheinlich kaum als Freundschaft bezeichnen.
Die nächste Steigerungsform ist dann, wenn Sie mit Personen in einem politischen Verband sind – im alten Athen war das die polis. Wir sind hier zusammen im Verband der Stadt Freiburg oder der BRD und wollen dafür nur das Beste. Man könnte das auch erweitern und sagen: Wir als Bewohnerinnen und Bewohner der Erde wollen alle verhindern, dass unsere Spezies durch den Klimawandel in 50 Jahren nicht mehr existiert. Das ist alles zweckorientiert, aber es sind keine persönlich-individuellen, sondern allgemein-gemeinschaftliche Zwecke.
Die eigentliche Freundschaft ist die emphatische Freundschaft unter Gleichen, die nicht nur das Beste für sich selbst, sondern ganz uneigennützig das Beste für den oder die andere/n wollen.
Wie hat sich unser Verständnis von Freundschaft mit der Zeit verändert?
In der Romantik ist Freundschaft auf reinen seelischen Gleichklang verengt worden. Also Freundschaft ist nur da, wo Sie seelisch völlig im anderen aufgehen, wo eine Harmonie da ist, die durch nichts gestört werden soll. So haben Sie ein oder zwei Freunde oder Freundinnen und die anderen Mitmenschen sind nicht wirklich Freunde. Diesen Freundschaftsbegriff hat – lange vor der Romantik – der französische Philosoph und Schriftsteller Michel de Montaigne vorgeprägt. Er hatte einen Herzensfreund, während er seine Ehe völlig zweckrational betrachtete. Seine Frau hat sein Anwesen gemanagt und er hat sich der Schriftstellerei gewidmet.
Heute hat sich der Freundschaftsbegriff wieder geweitet. Wir zögern nicht zu sagen, in einem einzelnen Bereich wie etwa Angeln seien wir mit jemandem befreundet, aber in anderen, beispielsweise Herzens- oder politischen Angelegenheiten seien wir es nicht. Das hat sich auch durch die digitale Medienkultur verändert. Bei Facebook ist jedermann und jederfrau „friends“. Aus der romantischen deutschen Tradition könnte man darauf erwidern: Stimmt nicht, Freunde sind nur die wenigsten! Aber Aristoteles würde zugestehen: Klar, auch die Facebook-Freunde sind Freunde. Sie sind halt Leute, mit denen Sie partiell etwas gemeinsam haben.
Vielleicht ist es auch schwierig, da genau zu trennen und bei einer Freundschaft zu sagen: Hier ist die seelische Verbundenheit vorhanden und bei der anderen nicht.
Klar, und das verändert sich auch. Diese Beobachtung, dass Sie Freunde aus ganz unterschiedlichen Kontexten haben, ist wie schon gesagt, bei Aristoteles zu finden. Zum Beispiel die klassischen Kindheits- und Schulfreunde, bei denen Sie heute nicht mehr sagen können, warum Sie mit ihnen befreundet waren. Das war so, als Sie zusammen im Kindergarten waren und im Sandkasten spielten. Jetzt sind die Interessen vielleicht völlig divergent und die Person steht woanders in ihrem Leben. Trotzdem: Nicht nur aus Sentimentalität pflegt man manche Schulfreundschaften noch und andere gar nicht mehr.
Die Digitalisierung hat unsere Freundschaften verändert. Hat sie zu einer Pluralisierung der Freundschaftsarten geführt?
Ja, würde ich schon sagen. Was den inflationären Wortgebrauch von „Freundschaft“ in der heutigen Zeit angeht, habe ich einen leichten skeptischen Vorbehalt. Aber ich habe nichts dagegen, dass dieser Begriff von Freundschaft geweitet wird. Die Digitalisierung als Hilfsmittel ist sehr günstig. Ich kann mich jetzt rasch per Zoom mit Weimar verbinden, wo ein Freund von mir wohnt und muss nicht gleich die große Reise machen.
Das Internet ist aber zugleich ein Medium, das eine bestimmte Distanzierung mit sich bringt. Wir sind im wahrsten Sinne des Wortes distanzierter als wenn wir gemeinsam Mittagessen oder Kaffee trinken gegangen wären. Das heißt also, dass die Digitalisierung eine gute Krücke sein kann, um Freundschaften aufrechtzuhalten.
Andersherum kann man sagen, dass es heute fast schon die Regel ist, dass man Freundschaftsangebote digital bekommt. In Ihrer Generation und vor allem nach der Coronazeit haben Sie sicher viele Kontakte erstmal digital geknüpft. Die Digitalisierung bietet viel mehr Plätze als früher, auf denen Sie sich begegnen können, die auch ganz andere Bedürfnisse abdecken. Zum Beispiel gibt es heute viele verschiedene Online-Partnerschaftsportale.
Die Möglichkeit, mit ganz vielen Leuten im Kontakt zu bleiben und die Freundschaften zu pflegen, kann auch schnell überfordernd sein. Dann ist es schwierig oder sogar unmöglich, eine enge Beziehung zu allen möglichen Leuten zu behalten.
Das finde ich einen ganz wichtigen Punkt. Ich habe schon mal vorgeschlagen, die Gegenwartskultur als eine Möglichkeitskultur zu charakterisieren. Das ist diejenige Kultur, die am meisten Möglichkeiten bietet. Unsere Großeltern und Urgroßeltern haben in einem viel engeren Möglichkeitsraum gelebt, egal, in welcher sozialen Schicht sie waren. Sie hatten vor hundert Jahren nur die Möglichkeit, zum Stift zu greifen und mit Briefen Freundschaften zu Abwesenden zu pflegen. Wie Sie gesagt habe, bringt die Explosion dieses Möglichkeitsrahmen aber auch mit, dass wir darin ertrinken können, also, dass wir überfordert sind.
Wie unterscheiden sich Freundschaften und romantische Liebesbeziehungen?
Ich würde sagen, der Raum der Freundschaft ist viel größer. Heute wird natürlich auch darüber diskutiert, inwiefern die romantische Liebesbeziehung eine ist, die die Freundschaft inkorporieren muss. Paarbeziehungen sind jahrhundertelang reine Zweckbeziehungen gewesen, die nichts mit Seelengestimmtheit oder dieser Freundschaft im emphatischen Sinne zu tun hatten. Deswegen auch diese Idee der romantischen Liebe, deren Pointe es war, sich gegen gesellschaftliche Konventionen zu richten. Das gab guten Stoff für all die Romane, die im 18. und 19. Jahrhundert geschrieben worden sind. Da wird dieses Gleichgestimmtsein der Seelen auf die Paarbeziehung, die ganz nüchtern betrachtet nur der Reproduktion und der sozialen Absicherung dienen soll, projiziert und das verkompliziert die Sache natürlich. Wenn Sie nur jemanden brauchen, um Kinder in die Welt zu setzen oder einen ökonomischen Schutzrahmen zu haben, dann gucken Sie auf völlig andere Kriterien, als wenn Sie prüfen, ob Sie seelisch zusammenpassen. Und da hat man jetzt seit der Romantik natürlich die Schwierigkeit, dass alles unter einen Hut gebracht werden muss. So wird diese Art von Beziehung häufig überfordert.
Wenn man sich heute Entwicklungen wie die der Polyamorie anschaut, dann sieht man, dass Sie da verschiedene Menschen für verschiedene Sektoren haben können. Manche Menschen können sexuelle Bedürfnisse, andere seelische Bedürfnisse und wieder andere geistige Bedürfnisse befriedigen. Es gibt also durchaus Bestrebungen, von diesem Einheitsideal, dem einen idealen Partner, abzusehen.
Es gibt ja den Begriff der platonischen Freundschaft und die wird oft der körperlichen romantischen Beziehung gegenübergestellt. Was meint denn platonische Freundschaft?
Der Begriff ist einerseits grob irreführend, weil Platon zwar ein Theoretiker der Freundschaft war, aber bei ihm nicht gedacht war, dass die ganz unkörperlich sei. Im Gegenteil: In einem seiner Dialoge, im Symposion, wird das Liebesverhältnis von Sokrates und Alkibiades, einem schönen und dreisten Jüngling, ausführlich geschildert. Es ist verhältnismäßig offensichtlich, dass die beiden nicht nur philosophische Konversation machen, sondern auch Sex miteinander haben.
Bei Platon gibt es aber eine gewisse Tendenz, das Körperliche abzuwerten und das Seelische hochzuhalten. Sokrates spielt gerne mit dem Gedanken, dass soma sema sei, also dass der Körper ein Grab sei. Das bedeutet, dass die Seele im Körper eingeschlossen ist. In einem anderen Dialog Platons, im Phaidon, entwirft der zum Tode verurteilte Sokrates eine große Vision von der unsterblichen Seele, die sich vom Körperlichen zu befreien habe. So betrachtet, muss sich die wahre Liebe vom Körperlichen emanzipieren.
Der Begriff der platonischen Liebe ist also andererseits durchaus zutreffend: Wenn Sie behaupten wollen, dass Sie nur den einen Teil von sich, die Seele, auf den anderen Menschen ausrichten und den Rest nicht, dann können Sie sagen, Sie hegten eine platonischen Liebe zu dieser Person.
Der Begriff ist heute vor allem ein Marker in der Kommunikation mit anderen, um zu zeigen, dass man jemanden nur in seelischer und nicht in körperlicher Weise interessant findet. Allerdings umarmen wir unsere Freunde und Freundinnen oft, was auch eine Form der Körperlichkeit ist. Das verändert sich auch und hat mit einer Mediterranisierung der Kultur zu tun. In Italien und Griechenland hat man schon in den 70er-Jahren gesehen, dass sich Männer umarmen. In meiner Studienzeit war das hier noch unüblich, hat sich heute aber eingebürgert und ist ein sozialer Code. Dieser veränderte Umgang mit Körperlichkeit in sozialen Beziehungen hat auch mit medialer Vermittlung zu tun und variiert zwischen den Kulturen.
Sie beschäftigen sich sehr viel mit Friedrich Nietzsche. Was hat Nietzsche zu Freundschaft gesagt?
Nietzsche hat sich in der Jugend für romantische Freundschaft begeistert, was sich in viele schönen Texten zu Freundschaft spiegelt. Es ist für ihn aber auch sehr charakteristisch, dass er kein einheitliches Konzept von Freundschaft entwickelt hat und sich immer wieder selbst ins Wort fällt. Seine Äußerungen hängen auch davon ab, wie er gerade persönlich auf Freundschaftsquerelen reagieren muss. Das tut er dann auch denkerisch.
Zum Beispiel sagt er: Wenn uns unsere Freunde wirklich kennen würden, mit all den Abgründen in unserer Seele, dann würden sie sich sofort von uns abwenden. Das heißt, auch gegenüber Freunden sind wir nicht immer rückhaltlos ehrlich, sondern behalten uns unsere Schutzräume vor. Und manchen Freunden vertrauen Sie Dinge wie Ihre Liebesangelegenheiten an, mit anderen sprechen Sie über metaphysische Probleme. Sie sind nie so, dass Sie einer Person gegenüber alle Karten aufdecken. Die Suggestion wird zwar erzeugt, vor allem in der Partnerschaftsbeziehung. Aber wer erträgt es, die ganze Offenheit einer Person die ganze Zeit über abzukriegen?
#Beziehungsweisen - Wie wir zueinander stehen
Wir von uniCROSS beschäftigen uns diesen Monat unter dem Hashtag #Beziehungsweisen mit allem, was uns an der Zwischenmenschlichkeit interessiert