Vorfreude ist die schönste Freude – oder?
Geburtstage, Reisen, Treffen mit Freund*innen – vor Ereignissen, die wir mit etwas Positivem verbinden, verspüren wir häufig Vorfreude. Jule hat mit Psychologie-Professor Roland Thomaschke darüber gesprochen, was diese Emotion bedeutet, ob wir im fortgeschrittenen Alter noch Vorfreude empfinden können und was hinter dem Sprichwort „Vorfreude ist die schönste Freude“ steckt.
Hallo Herr Prof. Thomaschke, Sie sind Professor der Allgemeinen Psychologie an der Uni Freiburg. Was ist Vorfreude?
In der Emotions-Psychologie ist das die Emotion, die entsteht, wenn man ein zukünftiges Ereignis als positiv einschätzt und auch glaubt, dass es eintritt. Unter diesen Bedingungen stellt sich automatisch das Gefühl der Vorfreude ein. Allerdings unterscheiden sich Menschen sehr stark darin, was sie als positives Ereignis in der Zukunft ansehen und mit welcher Sicherheit sie solche Ereignisse erwarten. Da kommen dann auch kulturelle, interindividuelle und altersmäßige Unterschiedlichkeiten ins Spiel.
Gerade im Deutschen gibt es mit „Vorfreude“ außerdem ein ziemlich passendes Wort, welches diese Art der Emotion sehr präzise bezeichnet. Das gibt es so nicht in jeder Sprache. Im Englischen wird die Empfindung häufig mit dem Wort hope oder anticipation bezeichnet, was eher eine Notlösung ist. Hope zum Beispiel bezeichnet nicht unbedingt die Emotion Vorfreude, sondern eher eine kognitive Wahrscheinlichkeitseinschätzung, die dann die Emotion auslöst.
Wie reagiert unser Körper, wenn wir Vorfreude empfinden?
Die physiologischen Reaktionen unterscheiden sich gar nicht so sehr zwischen Vorfreude und der Freude über ein tatsächlich eingetretenes positives Ereignis. Das Gleiche gilt für äußerlich sichtbare Ausdruckskomponenten der Emotionen, wie zum Beispiel Lächeln, was auch nur bei relativ hoher emotionaler Intensität auftritt. So kann man auch einen gewissen Grad von Vorfreude und Freude verspüren, ohne dass man es einem ansieht. Am besten lässt sich also kognitiv zwischen Vorfreude und Freude differenzieren und in der Qualität der subjektiven Empfindung.
Welche Funktion hat Vorfreude?
Die positive Einschätzung von zukünftigen Ereignissen bringt uns dazu, solche Ereignisse eher zu suchen, gezielt anzustreben und Energie in ihre Realisierung zu investieren. Das heißt, diese motivationale Funktion der Vorfreude ist der Grund, weshalb wir diese Empfindung überhaupt haben.
Viele Menschen haben das Gefühl, dass die Vorfreude im Laufe des Lebens abnimmt oder sich verändert. Ist das so?
Da ist die Antwort wie meistens in der wissenschaftlichen Psychologie: Jein. Das Gefühl der Vorfreude, das heißt, wie es sich anfühlt, das ändert sich nach aktuellem Stand der Forschung qualitativ tatsächlich nicht. Das heißt, wenn eine 80-jährige Person sich auf den 80. Geburtstag freut, fühlt sich das genauso an, als wenn eine Person sich auf ihren 18. Geburtstag freut. Allerdings ändert sich die Intensität dieser Vorfreude meist im Laufe des Lebens sehr stark. Nicht physiologisch, sondern vor allem durch die Lebensumstände, die sich ändern.
Ein Faktor, der diese Intensität stark beeinflusst, ist, wie wichtig und exklusiv uns diese zukünftigen Ereignisse erscheinen, um bestimmte Dinge, Belohnungen oder Ziele zu erreichen. Wenn man sich als Kind auf den Geburtstag freut, weil das die einzige Gelegenheit ist zum Beispiel ein Fahrrad zu bekommen, dann ist das eine stärkere Vorfreude, weil dieses Ereignis ziemlich exklusiv dafür ist, diese Belohnung in Form des Geschenks zu bekommen. Im Erwachsenenalter kommen üblicherweise noch andere Möglichkeiten hinzu, ein Fahrrad zu bekommen. Wir können es uns zum Beispiel selbst kaufen oder eins ersteigern. Das heißt, wir haben mit zunehmendem Lebensalter viel mehr Möglichkeiten, ein Fahrrad zu bekommen.
Deswegen ist die Vorfreude auf dieses Ereignis, ein Geschenk am Geburtstag zu bekommen, dann nicht mehr so intensiv, obwohl es noch positiv bewertet wird. Aber es hat eben nicht mehr diese wichtige Bedeutung für uns. Deswegen ist es seltener, dass man so starke und intensive Vorfreude empfindet, weil es selten ist, dass Ereignisse so alternativlos etwa ein bestimmtes Erlebnis versprechen.
Da, wo wir im Erwachsenenalter diese Exklusivität wieder haben, empfinden wir genauso starke Vorfreude. Wenn wir beispielsweise verliebt sind und glauben, dass der Partner die einzige Person ist, die uns ein bestimmtes schönes Gefühl vermitteln kann, dann freuen wir uns auf das Zusammentreffen genauso intensiv wie als Kind, wenn wir am Geburtstag ein Fahrrad geschenkt bekommen, weil dieses Ereignis aus unserer Sicht eine gewisse alternativlose Exklusivität besitzt. Daher kann es auch im hohen Alter noch so sein, dass es Ereignisse gibt, gegenüber denen man intensive Vorfreude verspürt.
Steigert sich Vorfreude, zum Beispiel auf ein bestimmtes Ereignis, täglich?
Ja, je näher uns ein Ereignis erscheint, desto intensiver fallen die emotionalen Reaktionen darauf aus, wenn wir daran denken. So ist es auch mit der Vorfreude: Die Art der Emotion bleibt gleich, aber ihre Intensität steigert sich mit zunehmender zeitlicher Nähe.
Und wenn man zum Beispiel aktuell Weihnachten als Ereignis nimmt: Gibt es da auch die Tendenz, dass die Vorfreude eher mit dem Alter abnimmt?
Ja und das noch aus einem anderen Grund. Einerseits spielt auch wieder die Exklusivität dieses Ereignisses eine Rolle – typische Weihnachts-Geschenke könnte man sich im Erwachsenenalter auch selber zu anderen Anlässen kaufen – allerdings sieht man im Erwachsenenalter diesem zukünftigen Ereignis auch oft nicht mehr so ungetrübt positiv entgegen. Gerade auch, wenn man gelegentlich negative Erfahrungen oder Enttäuschungen erlebt hatte. Zu Weihnachten gab es vielleicht auch mal Streit. Man hofft natürlich, dass Weihnachten trotzdem ein schönes Fest wird und alle sich gut verstehen, aber man hat einfach auch negative Aspekte des Festes erlebt, die dann die Einschätzung des Ereignisses als nicht mehr ganz sicher positiv ausfallen lassen. Und diese Sicherheit, die dann dadurch verloren geht, dass etwas, worauf man sich freut, schiefgehen kann, lässt auch die Vorfreude generell weniger intensiv sein.
Gedankenexperiment: Wenn es allerdings so wäre, dass mein Geburtstag vom ersten bis zum 80. Geburtstag immer nur großartig und immer nur der schönste Tag des Jahres gewesen ist, dann würde ich mich tatsächlich auch genauso ungetrübt auf den 80. Geburtstag freuen wie ein kleines Kind vielleicht auf den 8., weil ich eben diese Erfahrung nicht habe, dass es auch mal schiefgehen kann.
Es gibt das Sprichwort „Vorfreude ist die schönste Freude“. Was steckt hinter diesem Sprichwort?
Das führt ein bisschen weg von der Allgemeinen Psychologie zur Differentiellen Psychologie.
Welchen Stellenwert Vorfreude für jemanden hat, hängt tatsächlich vom Typ ab. Da gibt es sogenannte Zeitperspektiven-Typologien. Es gibt vergangenheits-, gegenwarts- und zukunftsorientierte Menschen. Und wenn man eher zukunftsorientiert ist, dann neigt man vielleicht eher dazu zu sagen, dass Vorfreude die schönste Freude ist. Andere – gegenwartsorientierte – Menschen finden es viel schöner, jeden Tag im Alltag Freude zu erleben, anstatt sich hauptsächlich auf irgendetwas in der Zukunft zu freuen. Das heißt, dieses Sprichwort hat zwar seine Berechtigung, aber ob es auf einen zutrifft, hängt vom Typ ab.
Wenn man Vorfreude erzeugen und für sich stärker erfahren möchte, kann man das machen, indem man zum Beispiel bestimmte Dinge aus dem Alltag herausnimmt und für spätere Zeitpunkte aufspart. Zum Beispiel sagt, Wein trinken oder ein Buch lesen, das mache ich dann nur im Urlaub. Dann steigt die Vorfreude auf den Urlaub nach und nach. Da gibt es natürlich das Risiko, dass man auch enttäuscht werden kann, aber wenn man diese Vorfreude unbedingt haben will, kann man das auf diese Art erzeugen. Ob man das überhaupt will, ist wie gesagt typabhängig.
Je stärker man sich freut, desto stärker kann man enttäuscht werden. Macht es Sinn, die Vorfreude zu senken, um sich selbst vor Enttäuschung zu schützen?
Es ist tatsächlich so, dass man bei höherer Vorfreude stärkere Enttäuschung erfährt, wenn sie sich nicht erfüllt. Eine Möglichkeit, nicht enttäuscht zu werden, ist natürlich, sich auf gar nichts mehr zu freuen. Für empfehlenswerter halte ich es allerdings, sich zu bemühen, dass das Ereignis tatsächlich positiv wird und nicht enttäuschend. Und dabei kann die Vorfreude auch eine Motivation sein.