Als am 17. Februar 1964 der Kurort Bad Bonn vom Schweizer Militär gesprengt und anschließend in einem Stausee versenkt wurde, rechnete wohl noch niemand damit, dass drei Dekaden später erneut Menschen in die Gegend pilgern würden. Sie kommen jedoch nicht mehr der Heilsquellen wegen. Es ist der Sound, der sie in den mittelgroßen Ort im Westschweizer Kanton Freiburg zieht.
Seit 1991 steht nämlich der Club Bad Bonn am Ufer dieses Sees, auf dessen Bühne der Leiter Daniel Fontana seit jeher die Pop-Avantgarde der ganzen Welt einlädt. Und einmal im Jahr findet sich die Szene beidseits des Röstigrabens dort zu einem dreitägigen Festival, der Bad Bonn Kilbi, ein. Durch unerschrockene Eigenwilligkeit hat sich das Event inzwischen vom nischigen Geheimtipp in eines der wichtigsten Schweizer Festivals für alternative Popmusik verwandelt. Innerhalb weniger Stunden war die diesjährige Ausgabe ausverkauft, ohne dass ein einziger Act bekannt gewesen wäre. Ein chronologischer Querschnitt durch das Programm der vergangenen Ausgaben macht deutlich, wo dieses unbedingte Vertrauen herrührt: Sonic Youth, Aphex Twin, Queens Of The Stone Age, Beach House, My Bloody Valentine, Grizzly Bear, Mogwai. Dieses Jahr zählt unter anderem John Maus mit seinem klaustrophobischen Synthie-Pop zu den bekannteren Namen des Line-Ups.
Abgesehen von solchen Ausnahmen verzichtet die Kilbi dieses Jahr jedoch beinahe völlig auf die Platzierung von Headlinern – laut Fontana eine bewusste Entscheidung, die auch die programmatische Richtung der kommenden Jahre vorwegnehmen soll. Es gebe eh schon viel zu viele Festivals, deren Line-Ups sich erschreckend ähnlich sehen. Die Kilbi interessiert sich vielmehr für ästhetische Grenzbereiche, in denen sich die überkommenen Kategorien von E- und U-Musik aufzulösen beginnen: „Ich will keine Massenparty, auf der die Bands allen gefallen. Es muss schon ein bisschen wehtun! Ich möchte, dass die Leute herausgefordert werden, sich in Geduld zu üben.“ So gesehen ist das Festival also beinahe eine pädagogische Maßnahme.
Im Programm der diesjährigen Ausgabe findet man deshalb neben semi-bekannten Namen aus den Indie-Clubs Europas auch Acts wie die asiatische Performance-Künstlerin Pan Daijing, den zum Ethno-Jazz konvertierten Ex-DJ James Holden oder Chormusik aus Bulgarien. Anders als bei kommerziell ausgelegten Festivals geht es hier um die Erweiterung musikalischer Horizonte, die nach einer prinzipiellen Unabgeschlossenheit der musikalischen Sozialisation verlangt. Das Publikum soll den Bands applaudieren, nicht dem eigenen Gedächtnis. Diese Konfrontation mit dem Ungewohnten ist auf der Kilbi gerade deshalb so spannend, weil sie nicht in den gentrifizierten Metropolen stattfindet, sondern auf dem Land zwischen Viehweiden und den Fabrikhallen mittelständischer Unternehmen. Welche Assoziationen und Reflektionen werden wohl beim Mitarbeiter der Düdinger Saatzucht angestoßen, während er der afrofuturistischen Performance des Kollektivs Golden Dawn Arkestra beiwohnt? Es darf angenommen werden, dass an der Kilbi nachhaltig prägende Erfahrungen generiert werden.
Doch die Programmatik versucht sich nicht nur an der Entgrenzung musikästhetischer Kulturpräferenzen, die Bad Bonn Kilbi ist auch Treffpunkt und Austauschplattform für hiesige Bands und KünstlerInnen. Massimo Tondini, Sänger des Basler Psychedelic-Rock Projekts Harvey Rushmore & The Octopus kommt beispielsweise schon seit Jahren hierher, um neue Bands zu entdecken. Dieses Jahr steht er zum ersten Mal nicht im Publikum, sondern auf der Bühne: „Es war schon immer ein Traum von mir, hier spielen zu können. Ich freue mich sehr, dass es dieses Jahr endlich geklappt hat.“
Die Bad Bonn Kilbi ist und bleibt ein Experiment, das im Spiel mit Dichotomien aufgeht: Urbanität trifft auf Rurales; Pop auf Avantgarde; Tradition auf Traditionsskepsis. Dass dieses Experiment seit mittlerweile 27 Jahren funktioniert, ist nicht nur erstaunlich – hinter dem Erfolg der Kilbi verbirgt sich auch eine vage Hoffnung, wie dem gesellschaftlichen Auseinanderdriften von Stadt und Land zukünftig entgegengewirkt werden könnte: „Mittlerweile ziehen auch wieder jüngere Familien mit ihren Kindern in den Ort,“ so Fontana. „Das Dorf bekommt politisch und kulturell wieder Farbe.“ Eventuell braucht es also nur mehr engagierte Köpfe, um Projekte wie die Bad Bonn Kilbi auch im Schwarzwald entstehen zu lassen.