Wie gefährlich ist Bingewatching?
Wir machen es als Ablenkung zum stressigen Uni-Alltag oder einfach nur zur Entspannung: Bingewatching. Was, wenn das Serienschauen außer Kontrolle gerät? Forcieren die Streaming-Anbieter ein Suchtverhalten oder liegt das Problem beim Individuum selbst?
Gefangen im Stream
Streaming ohne Ende
Serienschauen zum Abschalten, zum Mitreden oder einfach nur weil es Spaß macht. Aber was, wenn aus vielen Serien zu viele werden? Was hilft wirklich gegen das Festsitzen vor dem Bildschirm? Anne hat Erfahrungen damit gemacht, was passiert, wenn die Serien zu einem zentralen Teil des Lebens werden.
„Nicht jeder, der täglich konsumiert, hat automatisch eine Sucht“
Fragst du dich manchmal, wie problematisch dein Serienkonsum eigentlich ist? Andreas Abler von der Freiburger Suchtberatung klärt auf, wie Online-Medien uns in ihren Bann ziehen und welche Möglichkeiten es gibt, um beim Bingewatching aus der Autoplay-Schleife zu entkommen.
Herr Abler, Sie sind Sozialarbeiter bei der Suchtberatung in Freiburg. Mit welchen Problemen kommen die Leute zu Ihnen?
Wir sind in erster Linie eine Beratungsstelle für stoffgebundene Süchte wie Alkohol und Medikamente.
Menschen, die wegen illegaler Substanzen zu uns kommen sind aber ebenso willkommen. Außerdem kommen Menschen wegen einer Glücksspielproblematik wie Sportwetten oder den typischen Automatenspielen in Gaststätten und online.
Mehr und mehr haben wir Anfragen zum Thema Medien. Aus diesem Grund haben wir uns dieses Jahr intensiv damit auseinandergesetzt.
Der einzige Bereich, der offiziell als Sucht anerkannt ist, ist Online-Gaming.
Problematische Internetnutzung anderer Art ist noch nicht anerkannt, obwohl die Zahlen ansteigen. Für diese Menschen möchten wir mehr Beratungsangebote anbieten.
Wie können Medienangebote, wie Streamingportale oder Social Media, süchtig machen?
In der Regel schauen wir zunächst, wie sich eine Sucht entwickelt. Und da gibt es zwei Faktoren: Was bringt die Person mit, also warum wird sie eher von Medien süchtig. Und wie schafft es das Medium, dass es süchtig macht.
Bei stoffgebundenen Substanzen ist es eher klar. Zum Beispiel macht Alkohol irgendwann körperlich abhängig. Zum Thema Medien gibt es relativ wenige Untersuchungen, die sich damit beschäftigen. Aus der Praxis kann ich berichten, dass es bei Online-Problematiken eher um Reduktion geht und nicht um Abstinenz, also darum, den Umgang damit zu lernen. Bei Streaming gibt es auf jeden Fall Faktoren, die begünstigen, dass ich in der Schleife hängen bleibe.
Und da schauen wir gemeinsam, woran das liegt. Wie etwa: Was ist das Angenehme an dem Suchtmittel? Und wie macht das Medium selbst abhängig?
Ein Punkt ist, dass es immer verfügbar ist und sich immer mehr auf mich einstellt, zum Beispiel mit personalisierten Serien-Vorschlägen. Natürlich gehört auch Autoplay zu den Faktoren, die mich am Bildschirm halten, so wird meine Neugier geweckt und ich möchte wissen, wie die Handlung weitergeht.
Ab wann wird Serienschauen problematisch?
Die meisten Studien beim PC-Konsum gehen davon aus, dass 98 Prozent der Nutzer zwar viel konsumieren, aber nicht abhängig sind. Nicht jeder, der täglich konsumiert, hat automatisch eine Sucht.
Vielleicht wird das Medium missbraucht, wie man eine Flasche Wein an einem Abend missbraucht, um lockerer zu sein. Ebenso missbrauche ich das Serienschauen während des Studiums, um abschalten zu können. Aber die wenigsten, die das Medium intensiv missbrauchen, haben automatisch eine Sucht.
Zur Suchtentwicklung haben wir bestimmte Begriffe: Zuerst haben die Menschen einen Genusskonsum, es macht Spaß. Dann gibt es eine Phase der Gewöhnung, das kann auch über einen langen Zeitraum passieren. Gewöhnung würde bedeuten, dass es normal für mich geworden ist und ich denke nicht mehr über den Konsum nach.
Beim Missbrauch wird es dann eher kritisch. Da geht es darum, für was ich die Substanz oder das Verhalten benutze. Nutze ich es, um etwas zu vermeiden, zum Beispiel eine Entscheidung zu treffen, oder nutze ich es zur Emotionsregulation, also um negativen Stimmungen zu entkommen.
Hier könnte das Verhalten in Abhängigkeit kippen.
Was kann ich tun, wenn ich merke, dass ich oder mein*e Freund*in ein ernsthaftes Problem mit Serienschauen haben?
Wir sind sehr vorsichtig damit, Tipps zu geben. Bei einer Beratung wird es eher darum gehen herauszufinden, welche Funktion das Suchtmittel hat. Was wurde denn schon alles probiert? Es geht darum, die Gewöhnung wieder zu unterbrechen.
Konkret kann man zum Beispiel Nutzungszeiten regulieren oder Inhalte sperren. Sie können sich selbst in die Pflicht nehmen: Wann habe ich das WLAN an? Welche Apps habe ich auf meinem Laptop? Ist das Autoplay ausgeschaltet?
Alle Maßnahmen greifen aber nur, wenn ich innerlich gewillt bin, zu reduzieren. Deshalb ist eine Kontrolle von außen – egal bei welcher Sucht – eher nicht zielführend.
Durch Corona verbringen die meisten Studierenden ihren Uni-Alltag am Laptop und schauen in ihrer Freizeit dann zusätzlich noch Serien. Was können wir hier tun?
Hier geht es darum, wieder im realen Leben anzukommen und einen klaren Plan zu haben.
Es ist gut, wenn man andere miteinbeziehen kann und eine Öffentlichkeit herstellt. Wenn ich schon zwei Freunden erzählt habe, dass ich das Serienschauen reduzieren will, hat es eine andere Wirkung, als wenn ich es nur für mich behalte.
Ich kann mich selbst weiter beschummeln, aber jetzt kann jemand fragen: „Und wie hat es letzte Woche geklappt?“. Und wenn ich mir dann was anderes vornehme, darf das auch etwas Angenehmes sein. Es wird darum gehen, mir im Ausgleich Gutes zu tun, nicht mich zu bestrafen. Wie etwa einen internetfreien Tag zu machen und sich mit einem Freund oder einer Freundin zu verabreden.
Wenn ich mich in der 5. Folge befinde und das merke, wie kann ich mich selbst stoppen, um aus der Binge-Schleife herauszukommen?
In dem Moment ist es wirklich schwierig, aus dem Mechanismus auszutreten. Aber Sie werden sich wahrscheinlich hinterher darüber ärgern. Daher wird es darum gehen, sich für das nächste Mal Veränderungen zu überlegen. Was vielen Menschen hilft, sind Veränderungen des Kontexts.
Das heißt zum Beispiel, der PC steht an einer anderen Stelle. Oder ich ändere meine Internet-Einstellungen oder schalte Autoplay aus. Ich verändere den Kontext, damit ich nicht von außen immer wieder automatisch in die Falle reingehe.
Wenn man schon in der Veränderung ist, gibt es andere Strategien. Zum Beispiel schaue ich die fünfte Folge fertig und rufe dann einen Freund an. Dann ist das Thema präsent und ich kann mit jemanden darüber reden.
Hilfreich kann auch ein Wechsel von der inneren Wahrnehmung zu einer Aktivität im Außen sein. Wenn innerlich alles brodelt, wird es schwierig, aus einem Gedankenkreislauf auszubrechen. Dann würde ich auf äußere Aktivitäten gehen, zum Beispiel kochen oder spazieren gehen. Dann schaue ich, ob mein Stresslevel wieder sinkt.
Stress ist grundsätzlich ein Thema, das sehr häufig in der Beratung vorkommt.
Bei Stress nutzen wir alte Mechanismen, wie etwa zu einem Suchtmittel zu greifen. Deshalb geht es erst einmal darum, den Stress zu verringern und wieder runterzukommen.
Wohin kann ich mich konkret wenden, wenn ich merke, ich brauche Hilfe von außen?
Am besten melden sich Betroffene bei einer klassischen Suchtberatungsstelle, die gibt es deutschlandweit. Auch wenn die Beratungsstelle nicht explizit für Medienproblematiken ausgewiesen sind, sind die Mechanismen doch ähnlich zu anderen Suchtstrukturen.
Haben Sie schon einmal eine Serie gebingewatched? Welche war es?
Ja, die letzte war Tatortreiniger. Die Frage kommt tatsächlich auch in der Beratung vor. Aber ich muss sagen, dass ich nicht alle Suchtstoffe persönlich kenne und ausprobiert habe, sonst würde ich vermutlich nicht hier sitzen.
Eine Gemeinschaftsproduktion von Rebekka Bunuma, Alexandra Pohl, Peter Schneider und Artur Vakhrameev im Rahmen des Seminars „Einführung in den crossmedialen Journalismus“ für Studierende der Medienkulturwissenschaft.
Seminarleitung, Redaktion: Silvia Cavallucci, Ada Rhode und Karsten Kurowski
Info
Wenn ihr das Gefühl habt, dass ihr zu viel im Internet unterwegs seid, gibt es eine Checkliste, um das eigene Verhalten zu überprüfen. Diese Checkliste wird zur Verfügung gestellt von DIA-NET (Diagnostik der Internetabhängigkeit im Netz). DIA-NET ist im Rahmen eines vom Bundesministerium für Gesundheit geförderten Projektes entstanden: www.dia-net.com/download/checkliste.pdf
Wer sich an die Suchtberatung in Freiburg wenden möchte, kann dies über die Website tun: www.suchtberatung-freiburg.de
Die Suchtberatung Freiburg bietet auch eine Online-Beratung an: www.beratung.caritas.de/suchtberatung