Nachdem der Krieg in der Ukraine innerhalb weniger Tage eskaliert war, war für uns schnell klar, dass wir den Menschen von dort helfen wollen. Wie so viele waren wir erschüttert von den Ereignissen und fühlten uns machtlos und wollten etwas dagegen tun. Als wir Anfang März die Nachricht bekamen, dass für die Mutter des ukrainischen Austauschstudenten Ilia eine Unterkunft in der Nähe des Seeparks gesucht wird, meldeten wir uns bei ihm, allerdings mit dem Hinweis, dass wir als WG aus neun Studierenden und Auszubildenden Anfang 20 nur einen schlecht isolierten Wintergarten als Zimmer anbieten konnten.
#Tag 1
Am Samstag, einige Tage nach unserer Nachricht, erhielten wir eine Antwort von Ilia und dann ging es ganz schnell. Für seine Mutter hatte er bereits eine Bleibe gefunden, aber eine ukrainische Studentin sollte am Abend am Hauptbahnhof ankommen, die noch eine Unterkunft brauchte. Um halb neun traf Mara aus unserer WG Ilia am Bahnhof, wo sie gemeinsam Svitlana abholten. Auf dem Weg zu uns gingen sie noch einkaufen. In einem fremden Land mit einer fremden Sprache einzukaufen, war schon die erste Herausforderung für Svitlana. In der Zeit schrubbten Anton und Max den Wintergarten bis er eine nie dagewesene Sauberkeit erreichte und Elena stellte noch eine Tulpe auf den Tisch.
Am Anfang war es absurd, aufregend und vor allem surreal, dass Svitlana bei uns war, wie Anton es im Nachhinein beschreibt. Mara zeigte ihr das Haus und ihr „Zimmer“, sprich den Wintergarten. Elena als unangefochtene Starköchin des Hauses übernahm währenddessen die eingekauften Sachen, um daraus ein spätes Abendessen zu zaubern. Unseren zehnten Mitbewohner Oskar, ein Skelett, mit dem Anna für ihr Medizinstudium lernt, brachten wir noch schnell in den Keller. Wir fanden es absolut unpassend, ihn im Zimmer einer Gästin zu lassen und erst recht, wenn diese gerade einem Krieg entkommen war.
Nachdem das Gröbste geklärt war, verleiß uns Ilia und Svitlana setzte sich mit Mara, Elena und Lenny zum Nudelessen in die Küche. Wir waren überrascht, dass sie kaum englisch, aber ein bisschen deutsch spricht – und neben ukrainisch auch noch fließend russisch.
#Tag 2
Sonntagmorgen frühstücken wir erstmal mit der gesamten WG im sonnigen Garten. Nachmittags fährt Anton mit Svitlana in die „Küche für alle“, die Küfa, wo es gegen eine Spende ein warmes Essen gibt. An dem Tag werden die Spenden für einen Verein, der sich für queere Menschen in der Ukraine einsetzt, gesammelt. Deshalb hoffen wir, dass Svitlana hier andere Ukrainer*innen treffen kann. Sie nimmt Theresas Rad und ist am Anfang noch etwas unsicher, weil sie in der Ukraine selten Fahrrad gefahren ist. Aber es mache ihr Spaß, sagt sie und das wiederum freut Anton. Max gesellt sich auch noch zu ihnen. In der Küfa lernt Svitlana immerhin ein deutsch-ukrainisches Paar kennen. Die Frau ist auch erst vor wenigen Tagen aus der Ukraine wieder nach Deutschland gekommen. Svitlana tauscht mit ihnen Handynummern aus.
Anton informiert sich ständig, ob eine Demo oder Kundgebung gegen den Krieg in der Ukraine stattfindet, damit wir dort zusammen mit Svitlana hingehen können und sie andere Leute aus der Ukraine kennenlernen kann. Aber erfolglos. Vorletzte Woche hatte es noch beinahe täglich Kundgebungen gegeben, diese Woche: nichts.
#Tag 3
Montag sind alle busy und wir stellen fest, dass es ziemlich praktisch ist, dass wir so viele Leute sind, die abwechselnd für Svitlana da sein können und etwas mit ihr machen, damit sie nicht so alleine ist und etwas zu tun hat. Sie hat zwar Bücher dabei, mit denen sie für ihr Psychologiestudium lernt, aber das kann sie ja nicht den ganzen Tag machen. Am Nachmittag geht Theresa mit Svitlana einkaufen. Als sie zurückkommen, haben sie schon eine Tüte Gummibärchen gegessen und viel gelacht. Uns fällt auf, was für ein komisches Wort Gummibärchen ist und wir versuchen es Svitlana zu erklären. Als sie später interessiert die Sticker auf unseren Schränken anschaut, versuche ich, die Forderung „Mieten deckeln“ zu erklären. Nicht so leicht, aber nach einigen Rückfragen und mit Hilfe des Google-Übersetzers bekommen wir es hin. Anton will auch ein bisschen ukrainisch lernen, aber stellt schnell fest, wie schwer die Aussprache ist.
Anfangs waren wir sehr vorsichtig, welche persönlichen Sachen wir Svitlana fragen. Wir wissen, dass sie aus Chernowitz kommt und in Kiew studiert hat. Schließlich erzählt sie auch, dass ihre Mutter und ihre Oma noch in der Ukraine sind und ihr Bruder ebenso. Ihre Mutter hat sich noch nicht dafür entschieden, zu fliehen, aber Svitlana hofft, dass sie es bald tut. Ihr Bruder ist wie wir Anfang 20, hatte noch nie in seinem Leben etwas mit Waffen zu tun und muss jetzt kämpfen. Das ist so unvorstellbar für uns. Svitlana versucht, jeden Tag mit ihm zu schreiben oder zu telefonieren.
Nach der ersten Aufregung stellen wir uns am Montag zum ersten Mal die Frage, wie es mit Svitlanas Aufenthalt weitergehen kann. In unserer spontanen Hilfsbereitschaft waren wir uns gar nicht darüber im Klaren gewesen, dass wir mit unserem Angebot, eine geflüchtete Person aufzunehmen, auch die Verantwortung für sie übernommen haben. Anton stellt fest, dass Svitlana gerade völlig auf uns angewiesen ist, weil sie hier niemanden kennt und sie die Sprache nicht kann. Svitlana sagt, sie sei froh, dass sie das Glück hatte, uns „offene, freundliche und fürsorgliche Studenten“ zu treffen, wie sie uns nennt.
Montagabend, acht Uhr: Vollversammlung in Oles Zimmer, um die Lage zu besprechen. Elena hat recherchiert, welche Möglichkeiten Svitlana hat, aber alle scheinen auf die Landeserstaufnahme für Geflüchtete (LEA) hinauszulaufen. Wir wollen auf keinen Fall, dass Svitlana dorthin muss, da sind wir uns einig. Gemeinsam brainstormen wir, wo wir uns Tipps holen könnten und wo Svitlana unterkommen könnte. Mara schlägt vor, die Initiative „Zusammenleben Willkommen“ zu kontaktieren, die Wohnraum an Geflüchtete vermittelt. Ole erzählt, dass die Mutter seines Freundes Jakob vielleicht ein Zimmer für Svitlana hätte, dass er aber erstmal sie und dann Svitlana fragen müsste, ob das in Frage käme.
Und dann ist da noch die Frage nach dem Geld. Wir wissen, dass sie etwas Geld aus der Ukraine mitgebracht hat, aber nicht, wie lange das reicht. Wir beschließen, dass wir ihr, falls es nötig ist, unter die Arme greifen und notfalls auch noch unsere Eltern um Hilfe bitten. Um die Anerkennung von Svitlanas Bachelorzeugnis kümmert sich Anton. Dafür ruft er bei einer Beratungsstelle an, die er im Internet gefunden hat.
#Tag 4
Mittlerweile ist Svitlana fast eine Mitbewohnerin wie wir alle. Sie frühstückt mit Mara, macht sich ihren Tee und teilt unsere Leidenschaft für Sprudelwasser aus dem Sodastream. Sie sagt, dass sie sich bei uns wohlfühlt, was uns sehr freut.
Es ist Dienstag, der 8. März und damit feministischer Kampftag. Wir gehen mit Svitlana auf die Demo. Dort sehen wir eine Frau mit zwei blau-gelben Luftballons. Ich spreche sie an, aber sie hat keine Verbindung zur Ukraine – schade. Wir laufen im Demozug mit und ich versuche Svitlana die Sprüche, die gerufen werden, zu erklären. Sie erzählt, dass es in der Ukraine am Frauentag normalerweise auch Aktionen gibt.
#Tag 5
Am Mittwoch brechen Elena und Svitlana schon um sieben Uhr morgens zur Ausländerbehörde auf, um sie anzumelden. Sie müssen insgesamt fast sechs Stunden warten. In der Zeit können sie den Wartebereich nicht verlassen, um nicht zu verpassen, wann sie aufgerufen werden. Neben ihnen warten viele andere Geflüchtete.
„Für mich war es wirklich krass zu sehen, wie viele Frauen und Kinder plötzlich heimatlos sind“, sagt Elena später. Als Svitlana und sie endlich drankommen, werden sie wieder nach Hause geschickt, da die Behörde wenig Flexibilität und Verständnis für die Situation zeigt. Sobald klar ist, dass Svitlana nicht auf Dauer bei uns wohnen kann, wollen sie sie nicht auf unsere Adresse anmelden, auch wenn eine Adressänderung nach einem Umzug ja theoretisch möglich wäre. Elena machte das ziemlich wütend. Schön fand sie aber zu sehen, wie viele freiwillige Helfer*innen vor Ort waren, um vor allem bei der Übersetzung zu unterstützen. Auch Svitlana war sehr froh, dass sie Elena als Begleitung hatte und sie Hilfe bei der Übersetzung bekamen.
Abends sind Svitlana und Ole zum Abendessen bei Ulrike, der Mutter von Jakob, bei der Svitlana eventuell wohnen kann, eingeladen, damit sich Svitlana und Ulrike kennenlernen können. Das Treffen läuft gut und beide können sich vorstellen, dass Svitlana bei Ulrike einzieht.
Und genauso plötzlich, wie sie kam, verlässt Svitlana uns auch wieder.
#Tag 6
Am Donnerstag machen wir bei schönstem Wetter noch einen letzten gemeinsamen Ausflug in die Mensa. Wir setzen uns auf die Wiese und essen Nudelsalat. Svitlana ist überrascht, dass es schmeckt, schließlich sei es nur Mensaessen …
Wir fahren zurück in die WG, wo Svitlana ihre Sachen packt und ich Abschiedscookies für sie backe. Auch der letzte Coronatest ist zum Glück negativ. Wir umarmen sie zum Abschied und sagen, dass wir in Kontakt bleiben und sie uns immer besuchen kann.
#die nächste Woche
Dienstag ist endlich wieder eine Demonstration gegen den Krieg. Wir treffen uns dort mit Svitlana und Jakob und essen danach bei uns in der WG zusammen. Da die Demo von der Seebrücke und nicht von der Deutsch-Ukrainischen-Gesellschaft organisiert wurde, kommen leider keine anderen Ukrainer*innen.
Als wir in die WG kommen, ist die Lasagne noch im Ofen. Svitlana blättert durch das russisch-deutsche Kauderwelsch-Buch, das Elena im Internet für sie gefunden hat und mit dem Svitlana ihr Deutsch verbessern kann. Sie freut sich sehr darüber. Um in Deutschland etwas mit ihrem Psychologiestudium anfangen zu können, möchte sie schnell gut Deutsch lernen. Außerdem würde sie gerne arbeiten, um Geld zu verdienen.
Dann ist die Lasagne fertig und alle kommen in die Küche geströmt. Ole nimmt ein Stück in den Mund und sagt stöhnend: „Das Essen ist heiß“. „Runterschlucken“, sagt Svitlana, „dann wird es heiß im Herzen“. Alle lachen. Wir sitzen zu neunt auf zu wenigen Stühlen, verschlingen die Lasagne und sind gut gelaunt. Beim Abwasch sagt Max: „Das war ein schöner Abend mit Svitlana. Ich habe das Gefühl, es tut auch uns als WG gut, wenn sie da ist.“ Dafür zu sorgen, dass sie gut hier ankommt, hat uns als WG auch zusammengeschweißt und dabei ist Svitlana auch zu einer Freundin für die ganze WG geworden. Wir versuchen, dass sich weiterhin alle paar Tage eine Person aus der WG mit ihr trifft.
Nachdem knapp eine Woche vergangen ist seit Svitlana ausgezogen ist, überlegen wir, wieder Geflüchtete im Wintergarten aufzunehmen. Auch wenn wir den Aufwand und die Verantwortung unterschätzt haben, hat es gut geklappt und jetzt haben wir schon Erfahrung. Ein weiterer Pluspunkt ist, dass sich die Organisation verbessert hat. Es gibt nun unter anderem die „Student-to-Student“-Initiative des University College Freiburg, bei der sich Studierende, die eine Unterkunft anzubieten haben, melden können und eine Hotline der Stadt, die allgemeine Fragen für Geflüchtete aus der Ukraine beantwortet. Uns ist aber auch klar geworden, dass bei so einer wichtigen Entscheidung alle in der WG an Bord sein müssen. Außerdem soll sich unsere Aufnahme nicht ausschließlich auf aus der Ukraine fliehende Menschen beschränken. Ein großes Problem aber bleibt: Wie finden wir eine langfristige Unterkunft für unsere Gäst*innen? Wir kennen schließlich nur eine Ulrike.
Falls auch ihr helfen möchtet:
Die Initiative „IUSTUF“ (International and Ukrainian Students from Ukraine in Freiburg) des University College Freiburg hilft Geflüchteten, eine private Unterkunft zu finden. Gleichzeitig setzt sie sich dafür ein, dass internationale Studierende aus der Ukraine die gleichen Aufenthaltsrechte erhalten wie ukrainische Studierende. Felix arbeitet am Lehrstuhl für Science and Technology Studies, der die Initiative ins Leben gerufen hat und erzählt im Interview über ihr Engagement und Herausforderungen, die ihnen bisher begegnet sind.
Update:
Mittlerweile hat der Bundesrat eine Entscheidung über den Aufenthaltsstatus von Geflüchteten getroffen, die nicht die ukrainische Staatsbürger*innenschaft besitzen. Ihr Status wird bis Ende August verlängert. Damit haben sie immer noch nicht den gleich Status wie Ukrainer*innen, aber es verschafft ihnen zumindest Zeit.