Hallo, Frau Herzog! Sie sind die Gleichstellungsbeauftragte der Universität Freiburg und haben in diesem Jahr den Handlungsleitfaden gegen sexuelle Belästigung, Gewalt und Stalking erneuert. Worum geht es in diesem Leitfaden?
Schon 1995 wurde vom Rektorat eine Richtlinie gegen Belästigung und Diskriminierung an der Universität veröffentlicht. Sie wurde immer wieder weiterentwickelt, bis 2011 meine Vorgängerin mit ihren Referent*innen einen Handlungsleitfaden erarbeitete, der an das Handlungskonzept des Universitätsklinikums angelehnt war.
Der Handlungsleitfaden ist eine Art Selbstverpflichtung der Universität, wie sie den Umgang miteinander gestalten möchte. Er richtet sich hauptsächlich an Betroffene, aber auch an mögliche beschuldigte beziehungsweise Gewalt ausübende Personen. Es gibt viele Menschen, die sich vielleicht nicht bewusst sind, dass sie im Umgang mit anderen eine Grenze überschreiten und entsprechende Signale, die von einer anderen Person ausgehen, nicht wahrnehmen oder anders deuten.
Was wurde aktuell im Leitfaden geändert?
Die letzte Fassung ist von 2016. Seitdem hat sich personell einiges geändert. Es gibt eine neue Gleichstellungsbeauftragte, ich wurde im Februar 2020 als Ansprechperson für sexuelle Belästigung und Gewalt ausgewählt. Die männliche Ansprechperson ist der Theologe und Psychotherapeut Prof. Baumann. Weil sich das Landeshochschulgesetz geändert hat, gibt es mittlerweile eine Ansprechperson für Probleme im Zusammenhang mit sexueller Belästigung und eine Ansprechperson für Antidiskriminierung.
Was jetzt deutlicher hervorgehoben ist, ist die Verschwiegenheitsverpflichtung. Ich darf mit niemandem innerhalb oder außerhalb der Hochschule über Dinge reden, die mir eine betroffene Person anvertraut hat, wenn sie kein Einverständnis gegeben hat.
In der Pandemie haben wir eine Zunahme von digitaler Gewalt beobachtet. Studierende werden von anderen Studierenden per Mail oder per WhatsApp belästigt, zum Teil ohne dass sie sich jemals in echt getroffen oder persönlich kennengelernt haben. Auch Lehrkräfte können von digitaler Gewalt betroffen sein. Daher haben wir die digitale Gewalt als eigenes Kapitel aufgenommen.
Seit in Kraft treten der Istanbul-Konvention für Deutschland im Jahr 2018 wird das Übereinkommen Zug um Zug in nationales Recht umgesetzt. So wurde in 2021 die Untersuchungsstelle für Gewaltbetroffene am Institut für Rechtsmedizin eingerichtet. Seither können sich von körperlicher Gewalt betroffene Personen auf äußerlich sichtbare Verletzungen untersuchen lassen, die hier gerichtsfest dokumentiert werden. Neu ist, dass vorab keine Anzeige mehr bei der Polizei erforderlich ist.
2020 hat die Landeskonferenz der Gleichstellungsbeauftragten die Kampagne „Zieh einen Schlussstrich“ gestartet, an der alle Hochschulen Baden-Württembergs beteiligt sind. Im Rahmen der Kampagne wurde vom Ministerium im November 2020 die Strafrechtlerin Michaela Spandau als unabhängige Ansprechperson für alle Hochschulen in Baden-Württemberg beauftragt. Seither steht Frau Spandau allen Mitgliedern und Angehörigen der Hochschulen für vertrauliche und kostenlose Erstberatungen zur Verfügung. Den Ansprechpersonen und Führungskräften bietet sie Unterstützung und Rechtsberatung bei Beschwerden und Beratungsfällen an.
Der Titel des Handlungsleitfadens wurde um den Gewaltbegriff erweitert, um deutlich zu machen, dass es sich bei Belästigungen um eine Form von Gewalt handelt. Von den Gewalt ausübenden Personen wird dabei ein Machtgefälle ausgedrückt, sie sagen damit: Ich kann mir das dir gegenüber erlauben, du stehst mir als Lustobjekt zur Verfügung. Der Gewaltbegriff verdeutlicht noch einmal die Grenzverletzungen und Übergriffe gegen die sich der Handlungsleitfaden richtet.
Warum braucht man überhaupt einen Handlungsleitfaden gegen sexualisierte Gewalt, wenn es doch Gesetze gibt, die das regeln sollten?
Die Hochschulwelt ist eine eigene Welt. Es geht erstmal darum, die Regeln allen bekannt zu machen, vor allem auch den Studierenden.
Diese Welt ist in Teilen gesetzlich nicht besonders gut geschützt. Das allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, in dem Diskriminierungstatbestände festgelegt sind, betrifft hauptsächlich die Arbeitswelt und nicht die Studierendenwelt. Dabei gibt es gerade dort ein starkes Machtgefälle. Professor*innen und Lehrpersonen kommt in ihrer Position als Betreuer*innen und schließlich Beurteiler*innen von Bachelor-, Master- oder Doktorarbeiten eine erhebliche Machtposition zu. Darüber hinaus sind an Hochschulen viele Professor*innen und Lehrpersonen auch im Mittelbau verbeamtet. Im Unterschied zu Tarifbeschäftigten sind die Hürden, um gegen Verbeamtete rechtlich vorgehen zu können, viel höher. Durch verbindliche Leitlinien und Selbstverpflichtungen wie im Handlungsleitfaden muss man zum Ausdruck bringen können, wo Grenzen verletzt werden, und die Uni muss gegen jede Form des Machtmissbrauchs vorgehen können.
Studierende fühlen sich oft ohnmächtig und ausgeliefert und kommen gar nicht erst in die Beratungsstelle, weil sie Angst haben, die beschuldigte Person werde es erfahren und sie bekämen eine schlechtere Note oder können ihr Studium nicht fortsetzen. Ausländische Studierende haben Angst, ihren Aufenthaltstitel zu verlieren. Der Handlungsleitfaden soll klarmachen, dass es eine Ansprechperson gibt, von der sie geschützt werden.
Was passiert, wenn die betroffene Person und der Täter sich sehr unterschiedlich dazu äußern, was vorgefallen ist?
Das kommt leider immer wieder vor. Nach der letzten Gesetzesnovelle ist es bei sexueller Belästigung jedoch unerheblich, wie etwas vermeintlich gemeint war, sondern es zählt allein, wie die betroffene Person etwas erlebt und empfunden hat. Selbst wenn die beschuldigte Person alles leugnet oder abstreitet, weisen wir bei Beratungen oder Schreiben diese Person darauf hin, dass die von der betroffenen Person geschilderten Vorkommnisse und Erlebnisse an der Universität nicht geduldet und geahndet werden.
Der Grundsatz der Beratungsstelle ist, dass dem Opfer geglaubt wird. Wir stehen auf der Seite der betroffenen Person. Trotzdem versuchen wir bei weniger schwerwiegenden Vorfällen, auf die beschuldigten Personen zuzugehen, ihnen bewusst zu machen, dass ihr Verhalten nicht okay war und eine Verhaltensänderung bei ihnen zu bewirken.
Für Professor*innen können solche Beschuldigungen schwerwiegende Nachteile haben, wenn das bekannt wird. Da kann es vorkommen, dass sie gegen eine Beschuldigung eine Verleumdungsklage anstrengen und alles abstreiten.
Der letzte Schritt im Handlungsschema ist, dass rechtliche Schritte eingeleitet werden. Es gibt ja gute Gründe, warum Menschen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben, nicht zur Polizei gehen möchten, etwa, weil sie schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht haben oder diese Verhörsituation retraumatisierend für sie sein könnte. Werden dann zwangsweise rechtliche Schritte eingeleitet oder hat die betroffene Person noch einen Einfluss darauf, was passiert?
Das Verfahren kann jederzeit beendet oder vorübergehend angehalten werden, wenn die betroffene Person das möchte. Bei schweren Vergehen wie nachgewiesener Vergewaltigung jedoch müsste die Hochschule Anzeige erstatten und zum Schutz vor möglichen weiteren Betroffenen die beschuldigte Person fristlos kündigen oder im Falle einer studierenden Person ein Hausverbot aussprechen.
So ein Verfahren kann für die betroffene Person psychisch sehr belastend sein. Gibt es dafür psychotherapeutische Begleitung?
Ich selbst kann keine psychotherapeutische Beratung leisten. Gerne empfehlen wir Betroffenen entsprechende Stellen wie zum Beispiel Frauenhorizonte oder das Studierendenwerk, die kostenlose psychotherapeutische Beratung anbieten. Weitere Anlaufstellen, an die wir vermitteln, sind auch im Handlungsleitfaden aufgelistet.
Oft hilft den Betroffenen aber schon das Gespräch, bei dem sie erfahren, dass es sich bei dem, was sie erlebt haben, um eine Straftat handelt und es nicht hingenommen werden darf. Dass es berechtigt ist, dass sie sich in einer Situation unwohl fühlen. Das reicht manchmal, damit die Personen die Situation für sich lösen oder Grenzen setzen können.
Ende März startete in Freiburg die Kampagne nachtsam, an der sich auch die Uni beteiligt. Was ist die Kampagne und wie beteiligt die Uni sich?
Die Kampagne nachtsam ist Teil der Umsetzungen der Istanbul-Konvention. Eine der Konventionen ist die Bewusstseinsbildung in der Öffentlichkeit und der Schutz des öffentlichen Raums. Die Kampagne nachtsam setzt dort an, wo Frauen nachts unterwegs sind, also in Bars, Diskotheken oder bei Mensafeten, und versucht den Raum sicherer zu gestalten. Das können beispielsweise gut beleuchtete Gänge zu Toiletten, Notrufknöpfe, gut beleuchtete Fahrradständer und Eingänge sein. Das Personal, das an solchen Orten arbeitet, wird sensibilisiert für Gefahren, zum Beispiel die Verabreichung von K.-O.-Tropfen. Clubs sollen selbst Plakate anbringen und Informationen auslegen, damit auch für potenzielle Täter klar ist, dass das Personal sensibilisiert ist und aufpasst.
In Baden-Württemberg wird die Kampagne von Frauenhorizonte durchgeführt und vom Sozialministerium unterstützt. Die Hochschulen wurden angefragt, ob sie bei dieser Kampagne mitmachen und darüber informieren möchten.
Was ist die erste Anlaufstelle für Personen, die einen Übergriff erfahren haben?
Die erste Anlaufstelle ist die, bei der man sich am wohlsten fühlt. Das kann eine Kommilitonin oder ein Kommilitone sein, die Familie, eine Lehrperson oder die Studiengangskoordinator*in. Man kann aber auch mich oder Herrn Baumann aufsuchen oder zu einer Beratungsstelle außerhalb der Universität wie Frauenhorizonte gehen.