“Worte töten”
Die Ärztin Dr. Lisa-Maria Kellermayr aus Seewalchen am Attersee (Österreich) nimmt sich Ende Juli 2022 das Leben. Seit Monaten war sie Hassnachrichten und Drohungen im Netz ausgesetzt. Zuletzt bewachte ein privater Sicherheitsdienst die Praxis während der Öffnungszeiten. Nach ihrem Suizid stehen die österreichischen Behörden in der Kritik. Mit Kommentar und wo es Hilfe für Betroffene gibt.
Die Ärztin Dr. Lisa-Maria Kellermayr aus Seewalchen am Attersee (Österreich) nimmt sich Ende Juli das Leben. Seit Monaten war sie Hassnachrichten und Drohungen im Netz ausgesetzt. Zuletzt bewachte ein privater Sicherheitsdienst die Praxis während der Öffnungszeiten. Nach ihrem Suizid stehen die österreichischen Behörden in der Kritik.
Der Abend des 1. Augusts in Wien war kein gewöhnlicher Abend. Um 20:45 Uhr läuteten die Glocken des Stephansdom. Hunderte Menschen kamen zusammen, um der Ärztin Dr. Lisa-Maria Kellermayr zu gedenken. Viele entzündeten Kerzen, trugen rosa Kleidung oder rosa Accessoires – die Lieblingsfarbe der verstorbenen Ärztin.
Lisa-Maria Kellermayr sprach sich öffentlich für die Impfung gegen Covid-19 aus. Und sie bezog auch politisch Position. Auf der Website ihrer Praxis betonte sie, sie stelle keine Impfbefreiungen aus. Außerdem richtete sie sich mit einer weiteren Botschaft an ihre Patient*innen: „Auch Patienten die sich anderweitig solche Atteste zu Unrecht besorgen, brauchen einen neuen Hausarzt“. Ein klares Signal in Richtung der Corona-Leugner*innenszene. Schließlich geriet Kellermayr ins Visier der Corona-Leugner*innenszene des deutschsprachigen Raumes. Die Allgemeinmedizinerin Kellermayr, mit Praxis in Seewalchen am österreichischen Attersee, war seit Monaten Hassnachrichten und Morddrohungen ausgesetzt.
Hass ungeahnten Ausmaßes
Das Ausmaß der Gewalt und hasserfüllten Inhalte, mit denen Kellermayr konfrontiert war, lässt sich nur erahnen. Einige der Nachrichten, die sie erhält, teilte sie öffentlich auf ihrem Twitteraccount. Sie sind getränkt von Hass und Gewaltfantasien. Im Juli 2022 gab sie schließlich die vorläufige Schließung ihrer Praxis bekannt. Als Grund dafür gab sie an, die Sicherheitskosten würden den Gewinn der Praxis inzwischen um ein Vielfaches übersteigen. Kellermayr hatte auf Grund der Hassnachrichten und Morddrohungen einen bewaffneten Sicherheitsdienst engagiert, der sich während ihrer Arbeitszeiten in der Praxis aufhielt. Außerdem hatte sie einen Panikraum eingerichtet – eine Konstruktion, die gewaltsames Eindringen verunmöglichen soll – um sich notfalls in Sicherheit bringen zu können. Des Weiteren installierte sie Panikknöpfe an verschiedenen Orten in der Praxis. Das alles soll Kellermayr rund 100.000 Euro gekostet haben.
Ende Juli nimmt sich Kellermayr schließlich das Leben. In einem ihrer drei hinterlassenen Abschiedsbriefe prangert Lisa-Maria Kellermayr die österreichischen Behörden an, sie habe nicht die notwendige Unterstützung erhalten.
Die Behörden in der Kritik
Die fehlende Unterstützung der Behörden kritisieren auch einige Aktivist*innen, die einige Tage nach Kellermayrs Suizid eine Protestaktion vor der Landespolizeidirektion Linz initiieren. Die Aktivist*innen fordern den Rücktritt des oberösterreichischen Landespolizeidirektor Andreas Pilsl. Ihr Vorwurf: Die Behörden hätten eine Mitschuld am Suizid von Dr. Lisa-Maria Kellermayr.
Der Journalist Michael Bonvalot, der die Corona-Leugner*innenszene schon seit Beginn der Pandemie beobachtet und darüber schreibt, sieht das ähnlich. Auf seinem Twitteracount spricht Bonvalot von Behördenversagen. Im Telefonat mit uniCROSS sagt er: „Kellermayr hätte auf jeden Fall polizeilicher 24-Stundenschutz zuerkannt werden müsse.” Auch die Wiener Politikwissenschaftlerin und Rechtsextremismusexpertin Natascha Strobl sieht das so. In der Tagesschau äußert sie, dass die Behörden eindeutig versagt hätten.
Michael Bonvalot und Natascha Strobl äußern sich beide in den Medien zu dem Fall. Beide erhalten auf Grund ihrer beruflichen Ausrichtung schon lange immer wieder Hassnachrichten und Drohungen. Nach ihren öffentlichen Reaktionen auf den Fall Kellermayr erreichen Bonvalfot und Strobl diesmal Nachrichten von Menschen, die sich von Strobl und Bonvalot wünschen, „die Kellermayr zu machen“. Für Natascha Strobl ist es diesmal eine große Belastung. Auf ihrem Twitterkanal kündigt sie an, ihren Account vorerst zu deaktivieren.
Die Frage, inwiefern die österreichischen Behörden für den Suizid eine Mitverantwortung tragen, ist noch nicht geklärt. „Ich fordere von den Behörden in Österreich eine klare Aufarbeitung und die Benennung von Verantwortlichen“, sagt Michael Bonvalot gegenüber uniCROSS.
“Die Banalisierung verbaler Brutalität muss aufhören”
Der Fall Kellermayr zeigt eines mit aller Deutlichkeit: Hassnachrichten und Morddrohungen finden nicht in einem luftleeren Raum statt. Hass, der sich im Internet entlädt, bleibt nicht in den Sphären des Internets, sondern wird von Menschen auf die Straße und in den Alltag getragen. Aus Worten im Internet folgen Taten auch außerhalb des Netztes. Für Michael Bonvalot ist klar: „Der Fall Kellermayr zeigt wieder einmal auf, dass man sich von der Vorstellung verabschieden sollte, dass die Corona-Leugnungs-Szene harmlos wäre“. Das sei nicht so. Die Szene radikalisiere sich zusehends, betont Bonvalot. „Es ist wichtig, dass das Gefährdungspotential der Corona-Leugnungsszene auch als solches öffentlich wahrgenommen wird“.
Auch der Hamburger Journalist Andreas Speit, der sich seit Beginn der Pandemie mit der sogenannten „Querdenken“-Szene in Deutschland beschäftigt hat, findet auf seinem Twitteraccount klare Worte für den Fall Kellermayr: „Die Querdenken- & Corona-Leugnungs-Bewegung muss nicht schießen, um zu morden“ und „Worte töten“ twittert Speit.
Hassnachrichten und Bedrohungen haben reale Auswirkung auf Betroffene. Nicht nur Leib und Leben sind bedroht, sondern auch die psychische Verfasstheit. Petra Bahr, Regionalbischöfin der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover und Mitglied im deutschen Ethikrat, betont in einem Artikel der Süddeutschen Zeitung zum Fall Kellermay: „Die Banalisierung verbaler Brutalität muss aufhören. Sie bedroht alle, die in Freiheit leben wollen – auch mit denen, die anderer Meinung sind.”
Kommentar des Autors
Jeder Fall von Diskriminierung im Netz sollte mit diesem Bewusstsein behandelt und ernstgenommen werden. Nur so lässt sich für die Zukunft ein situationsgerechtes Umgehen mit Hassnachrichten und Drohungen im Netz finden. Außerdem sollten Fehler von den Behörden zugegeben werden. Das hilft nicht nur um für die Zukunft zu lernen, sondern auch den Angehörigen, die Situation besser zu verstehen. Passiert das nicht, laufen die staatlichen Institutionen Gefahr, dass das Vertrauen in die staatlichen Institutionen kippt – Futter für die extreme Rechte. Vor diesem Hintergrund ist wichtig, das Vorgehen der Behörden im Fall Kellermayr detailliert zu prüfen, auch wenn die österreichischen Behörden vorgeben, alles in ihrer Macht Stehende ausgeschöpft zu haben.
Auch in Deutschland sind Ärzt*innen und medizinisches Personal während der Corona-Pandemie immer wieder aus der Corona-Leugner*innenszene bedroht worden. Wenn Ärzt*innen nicht mehr praktizieren können, weil sie sich und ihr Leben auf Grund von Hass und Gewalt in Gefahr sehen, sollten staatliche Institutionen sich dem Problem annehmen.
Unterstützung finden
Du bist von Hass und Bedrohung im Netz betroffen oder kennst Menschen, die sich in einer solchen Situation befinden? Es gibt Organisationen, die Betroffene unterstützen. HateAid ist eine davon. Nicolai von uniTV hat mit Anna Wegscheider von HateAid über ihre Arbeit gesprochen.
Infos
Mehr Infos zu HateAid findest du hier: hateaid.org
Das Studierendenwerk Freiburg (SWFR) bietet bei Krisen professionelle Unterstützung an: Informationen zur Psychotherapeutischen Beratungsstelle des SWFR gibt es hier: www.swfr.de/beratung-soziales/
Wer (anonym) über seine Probleme reden möchte, kann sich bei der Nightline melden, dem Zuhörtelefon von Studierenden für Studierende: www.nightline.uni-freiburg.de.
Wenn du Suizidgedanken hast, spreche mit jemandem darüber. Neben den Uni-Angeboten ist rund um die Uhr die Telefonseelsorge zu erreichen. Tel. 08 00/111 0 111 oder 08 00/111 0 222, oder per E-Mail und Chat unter: online.telefonseelsorge.de